Das Gebet ist für mich intim und etwas Gemeinschaftliches zugleich. Im Moment des Betens verbinde ich meine persönlichen Anliegen mit denen der Mitbetenden. Daraus kann eine kraftvolle Dynamik entstehen. Der klassische Ort dafür ist der Gottesdienst und der Raum meistens eine Kirche.
Die Energie des Gebets entsteht durch die physische Gemeinschaft der Betenden in einem Raum mit seinen Mauern, und dem Klang des gemeinsam gesprochenen Wortes. Zum Beispiel im gemeinsam gesprochenen Unservater.
So dachte ich zumindest. Wie ist es aber nun, wenn das alles nicht da ist? Wenn Raum, Ton und Körper, wenn alles Physische fehlt? Wenn das Gebet auf einem Twitter-Account im Internet stattfindet?
Beten am Handy
Um 21 Uhr soll es losgehen. Jeden Abend startet die #twomplet, das gemeinsame Abendgebet auf Twitter zur gleichen Zeit. Alles, was ich zum Mitbeten brauche, sind ein Twitter-Account und mein Handy. Ich sitze in meiner Küche und habe noch die Sportschuhe vom Lauftraining an. Anders, als wenn ich ein Angebot innerhalb der Kirchenmauern wahrnehmen würde, kann ich bei Twitter gleich in medias res gehen. Keine Anfahrt, kein Umziehen. Das gefällt mir, weil es unkompliziert ist. Aber erreicht mich das Abendgebet im Netz auch geistlich? Ich bin gespannt.
Guten Abend aus Karlsruhe und herzlich willkommen allen Mitbetenden zu unserem ökumenischen Abendgebet auf Twitter, wo immer ihr auch seid. Ich bin @hanna_unterwegs und freue mich, heute abend mit euch zu beten. #twomplet (h_u) pic.twitter.com/rSrmRZ96Zg
— #twomplet (@twomplet) 1. Mai 2019
Die #twomplet wird immer von einer Person geleitet. Sie oder er ist Vorbeterin oder Vorbeter. Wer die Aufgabe übernimmt, hat sich zuvor in einen Doodle-Kalender eingetragen. Alle, die möchten, sind grundsätzlich frei mitzumachen. Allerdings ist der Ablauf des Gebets vorgegeben. Angelehnt ist die #twomplet, eine Wortkombination aus Twitter und Komplet, an die klösterliche Tradition des Nachtgebets. Die konfessionelle Prägung des Vorbetenden fliesst ein, aber das Gebet ist explizit ökumenisch.
An diesem Abend begrüsst mich und alle anderen, die online sind, die Vorbeterin mit dem Twitternamen @hanna_unterwegs. Wie viele Menschen noch mitbeten, weiss ich nicht. Falls ich genauer wissen möchte, wer diese Hanna ist, kann ich auf ihrem Account mehr über sie erfahren.
Hanna begrüsst uns Follower aus Karlsruhe. Dann teilt sie uns mit, dass wir still mitbeten können oder laut, was in diesem Fall heisst, dass wir retweeten, also unter dem Hashtag #twomplet etwas schreiben.
Auf die Begrüssung folgt ein Psalm. Langsam gewöhne ich mich daran, dass sekündlich neue Tweets auf meinem Bildschirm eintrudeln.
Ich kann mich auf den Inhalt einlassen und die Form vernachlässigen. Jetzt postet die Vorbeterin einen Link zu einem Youtube-Video. Der Link führt mich auf ein Musikvideo. Ich klicke es an, und die Musik erklingt. An dieser Stelle bedaure ich zum ersten Mal, dass hier etwas bloss digital und nicht ana-
log passiert. Live gespielte Musik würde mich schon auf andere Weise berühren, denke ich.
Geteilte Gebete
Mehr Empathie entwickle ich wieder, als der Aufruf kommt, seine persönlichen Fürbitten zu twittern. In diesem Moment bekomme ich ein Gefühl dafür, dass andere Menschen mit mir jetzt gerade am gleichen virtuellen Ort sind. Ich sehe es an ihren Tweets. In den persönlichen Fürbitten wird Intimes geteilt. Das berührt mich. Ich erlebe, wie Menschen um Dinge bitten, für die auch ich beten kann. Manche Menschen teilen auf diese Weise gar ein Stück von ihrem Leben mit der «Twittergemeinde».
Nun entsteht ein Gemeinschaftsgefühl. Dieses Gefühl wird noch verstärkt, indem einige Follower Anteil an den Fürbitten nehmen. Sie markieren die Tweets mit einem «Gefällt mir» oder retweeten diese. Die Vorbeterin hat jetzt die Aufgabe, das Gebet zusammenzuhalten und genau wie in einem klassischen Gottesdienst in das gemeimsame Unservater münden zu lassen.
Unkompliziert und offen
Am Ende meiner ersten #twomplet bin ich überrascht. Ich lege mein Handy beiseite und spüre einen gewissen Frieden in mir. In diesen 40 Minuten war ich in einer Gemeinschaft unterwegs, obwohl sie bloss virtuell war.
Das gemeinsame Gebet hat mich erreicht. Die Unkompliziertheit der Methode und die Offenheit in der Haltung haben mich angesprochen. Mir gefällt die Möglichkeit gemeinsam zu beten, egal, wo man sich gerade aufhält.