Recherche 27. Mai 2020, von Felix Reich

«Der Online-Gottesdienst wirkt wie ein Brennglas»

Verkündigung

In der Corona-Krise habe die Kirche ihre Innovationskraft bewiesen, sagt Theologieprofessor Thomas Schlag. Seine Bilanz zu den Online-Gottesdiensten fällt jedoch durchzogen aus.

Haben Sie Gottesdienste vermisst?

Thomas Schlag: Ja. Egal, ob man nun hingeht oder nicht, allein das Wissen darum, dass keine Gottesdienste stattfinden, ist eine heftige Veränderung. Es fehlt etwas in der Stadt. Insbesondere über Ostern empfand ich den Einschnitt als massiv.

Pfarrerinnen und Pfarrer haben in leeren Kirchen gepredigt und die Feiern im Internet übertragen. Waren das keine Gottesdienste?

Doch. Für mich sind das vollwertige Gottesdienste. Wesentliche liturgische Elemente blieben erkennbar.

Inwiefern kann die virtuelle Variante die reale Feier ersetzen?

Ich habe mir eine Reihe von Gottesdiensten angeschaut und selbst an einzelnen sozusagen aktiv teilgenommen. Bei vielen Pfarrpersonen spürte ich das Bemühen, die virtuelle Gemeinde anzusprechen. Aber es fehlt halt vieles, was über das unmittelbar Sichtbare hinausgeht: der Raum, die Atmosphäre, das Wissen, dass noch Menschen um mich herum sind. Ich erfahre Online-Gottesdienste als deutliche Begrenzung.

Ist es überhaupt sinnvoll, sich am herkömmlichen Gottesdienst zu orien­tieren und ihn nachzuahmen?

Das ist eine wichtige Frage. Einerseits war bei Pfarrpersonen die Bereitschaft da, sich auf das Medium einzulassen. Nichts wirkte künstlich, die Botschaft kam an. Mit grosser Ernsthaftigkeit setzten sich die Predigten mit der Krise auseinander. Andererseits wurde häufig nur die Gemeinde durch die Kamera ersetzt, die kreative Übersetzungsarbeit ins neue Medium fehlte dann.

Bei vielen Pfarrpersonen spürte ich das Bemühen, die virtuelle Gemeinde anzusprechen.

Worin bestünde diese Arbeit?

45 Minuten sind für ein digitales Medium eine extrem lange, ich glaube, zu lange Zeit. Es braucht deshalb prägnantere Formen. Die Sprache wirkte teilweise sehr traditionell. Weil Elemente wie das gemeinsame Singen und Beten wegfallen, sind Angebote zur Interaktion wichtig. Manchmal wurden die Zuschauer­innen und Zuschauer eingeladen, Gebete in die Kommentarspalten zu schreiben oder sich Lieder zu wünschen. Solche Ansätze finde ich gut.

Prägnanz, Interaktion und verständliche Sprache täten auch normalen Gottesdiensten ganz gut.

Stimmt. Hier wirkt der Online-Gottesdienst wie ein Brennglas: Es zeigt sich, was in der bisherigen Praxis nicht stimmt beziehungsweise an Sprache und Präsenz eben fehlt.

Wie beurteilen Sie die Reaktion der Pfarrerinnen und Pfarrer auf das Gottesdienstverbot insgesamt?

Natürlich mussten sie in sehr kurzer Zeit lernen, mit der neuen Technik umzugehen. Dabei ging die Schere auseinander zwischen denen, die schon immer nach neuen Wegen suchten, und jenen, denen die Technik fremd blieb und die in der Krise mehr oder weniger abtauchten. Die Kirche hat vielleicht gerade jetzt entdeckt, dass sie verschiedene Kommunikationskanäle bedienen muss.

Über die Krise hinaus?

Unbedingt. Dabei geht es nicht einmal zuerst um den Gottesdienst. Kurze und aufbauende Botschaften zum Beispiel auf Twitter können Menschen über die Kerngemeinde hinaus ansprechen. Digitale Präsenz ist kein Allheilmittel, aber sie ist wichtig für die künftige pastorale und kirchengemeindliche Arbeit.

Digitale Präsenz ist kein Allheilmittel, aber sie ist wichtig für die künftige pastorale und kirchengemeindliche Arbeit.

Ist das eine Generationenfrage?

Nicht zwingend. Aber wir wissen, dass etwa in der Jugendarbeit die Kommunikation intensiv weitergeht. Zudem sind dank ihrer technischen Kompetenz andere Personen in einer Kirchgemeinde wichtiger geworden. Da hat mancherorts ­eine Verschiebung der Verantwortlichkeiten stattgefunden, die eine Gemeinde zukünftig beleben kann.

Braucht es noch Online-Andachten, wenn nun in der Kirche wieder Gottesdienst gefeiert werden darf?

Online-Angebot und Gottesdienst sollten sich ergänzen. Im Vergleich zum Gottesdienstbesuch lassen sich die Einschaltquoten durchaus sehen. Kurze Andachten in den sozialen Medien, niederschwellige Seelsorge-Angebote auf digitalem Weg, einfach persönliche Präsenz: All das tut der Kirche weiterhin gut.

Haben Sie für Ihre Forschung zu Digitalisierung und Religion schon neue Erkenntnisse gewonnen?

Wir möchten es genau wissen und starten gerade die in der Schweiz ökumenische Umfrage «Churches Online in Times of Corona» zu Erfahrungen mit digitalen Angeboten in Kirchen von insgesamt 18 Ländern. Gezeigt hat sich schon jetzt, dass christliche Religion weiterhin ein höchst lebendiger Faktor in der Öffentlichkeit ist und in der Kirche innovative Wege gegangen werden können.

Thomas Schlag (54)

Thomas Schlag (54)

An der Universität Zürich ist Thomas Schlag Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Reli­gionspädagogik, Kirchentheorie und Pastoraltheologie. Er ist Vorsitzender der Leitung des Zentrums für Kirchenentwicklung und forscht zurzeit intensiv zur Digitalisierung und theologischen Kommunikationspraxis. Schlag studierte in Tübingen und München Evangelische Theologie und Politische Wissenschaften. 2005 kam er als Assistenzprofessor nach Zürich, seit sechs Jahren ist er Ordinarius an der Theologischen Fakultät.

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