Spezial 22. März 2021, von Yvonne Witschi-Minder

Häh? Digitale Kirche? Was soll das sein?

Serie Kirche digital

Keine Echtheit, zu oberflächlich, gefährlich? Pfarrerin Yvonne Witschi überprüft Vorurteile gegenüber der Digitalisierung in der Kirche. So viel sei verraten: Es sind Vor-Urteile.

Entdecken Sie Neues beim Blog «Kirche digital»

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Im Internet und in den sozialen Medien sind zahllose spannende Perlen von Kirche «in Digital» zu entdecken. Die Pfarrerin Yvonne Witschi aus Thun macht diese Erfahrung ständig aufs Neue. Nun stellt sie ihre Entdeckungen in der Serie «Kirche digital» monatlich vor.

Ihre Profile auf Instagram und Twitter:

https://www.instagram.com/witschiyvonne/

https://twitter.com/YvonneWitschi

Ein kurzer Hinweis zu Beginn: Die Website einer Kirchgemeinde ist nicht die digitale Kirche. Es ist lediglich der Webauftritt, wie ihn mittlerweile fast alle Unternehmen, Praxen und Vereine besitzen. Es gehört zum guten Ton, dass sich Interessierte und potenzielle Kunden im Vorfeld einer Kontaktaufnahme ein eigenes Bild machen können. Gerade dieser erste Eindruck darf nicht unterschätzt werden - auch nicht von Kirchgemeinden. Schaut man sich etwas um, gibt es hie und da deutlich Luft nach oben. Aber darum soll es eben gerade nicht gehen.

Was ist denn das, «digitale Kirche»?

Was ist also digitale Kirche, wenn damit nicht die Website einer Kirchgemeinde gemeint ist? Gerade durch Corona wurde der Begriff bekannter. Plötzlich wurden in den Gemeinden Gottesdienste, Andachten und Glaubenskurse digital abgehalten, weil alles andere nicht mehr möglich war. In kürzester Zeit haben sich Haupt- und Ehrenamtliche neues technisches Wissen angeeignet. Vom richtigen Ton über die Belichtung bis hin zum Schneiden von Videos. Es wurde ausprobiert, angepasst und neu gestaltet. Dahinter steckt bis heute sehr viel Herzblut und noch mehr Arbeit – das sollte gesehen und gewürdigt werden!

Ja, solche regionalen Angebote gehören zur Kirche im digitalen Raum. Und doch dienen sie mehrheitlich als Ersatz für analoge Anlässe während der Pandemie, etwa wenn traditionelle Gottesdienste in der Kirche aufgezeichnet und anschliessend auf der Website aufgeschaltet werden. Natürlich wurden Anpassungen gemacht, da aufgezeichnete Feiern ein anderes Setting benötigen.

Wie es nach Corona weitergeht, wird sich zeigen. Es wäre schön, wenn einiges weiterentwickelt würde. Das wird jedoch nur möglich sein, wenn Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Hier liegt es an den leitenden Kirchengremien zu entscheiden, ob und wie digitale Angebote weitergeführt werden können.

Mehr als Ersatz für Analoges

Digitale Kirche ist aber noch mehr. Und es gab sie schon vor Corona. Es sind Angebote, die explizit für den digitalen Raum konzipiert wurden und beispielsweise als Podcast oder YouTube-Video bereitgestellt werden. Solche Angebote «funktionieren» über geographische Grenzen hinweg. Und häufig sprechen sie auch deutlich jüngere und kirchenfernere Menschen an.

Zwar hinken wir im Vergleich zu Deutschland bezüglich «digitaler Kirche» tatsächlich etwas hinterher. Doch auch in der Schweiz hat die Pandemie einen regelrechten Schub ausgelöst; im vergangenen Jahr sind einige solcher rein digitalen Formate entstanden. Diese werde ich in meinem nächsten Beitrag ausführlich vorstellen.

Umfrage zu Vorurteilen zeigt Überraschendes

Bevor wir jedoch gemeinsam noch tiefer ins Digitale «abtauchen», möchte ich ein paar gängige Vorurteile näher betrachten. Vorbehalte gegenüber dem Internet sind gerade in kirchlichen Kreisen immer noch stark spürbar. Nicht selten braucht es grosse Überzeugungsarbeit, wenn solche neuen Formen von einzelnen Vorreiter*innen ausprobiert werden möchten.

Deshalb habe ich auf Twitter und Instagram eine kleine Umfrage gestartet. Dabei ging es mir darum, die verschiedenen Vorurteile, mit denen die Kirche im digitalen Raum zu kämpfen hat, zusammenzutragen. Und ich muss zugeben, dass mich das Resultat ziemlich überrascht hat.

Ich erwartete eine grosse Menge an Vorurteilen, die mich regelrecht zuschütten würden. Stattdessen gab es einige wenige Gegenargumente, welche dafür mehrmals genannt wurden. Diese scheinen sich äusserst hartnäckig zu halten und werden den digitalen Churchies immer und immer wieder um die Ohren gehauen:

Vorurteile

Ersetzt keine echten Begegnungen, geschweige denn eine echte Gemeinschaft!

Bisher habe ich in den sozialen Netzwerken noch niemanden angetroffen, der sich ausschliesslich eine digitale Kirche wünscht und künftig auf «echte» Begegnungen und eine «echte» Gemeinschaft verzichten möchte. Schaut man sich etwas um, wird immer wieder betont, wie wichtig die analoge Verwurzelung für jene ist, die Kirche im digitalen Raum mitgestalten. Und die Sehnsucht nach genau solchen analogen Veranstaltungen ist seit Corona gross und wird auch so kommuniziert.

Hinzu kommen die möglichen verschiedenen Ansichten, was «echt» genau bedeutet. Kürzlich durfte ich einen Zoom-Gottesdienst mitfeiern, bei dem ich die Gemeinschaft deutlicher spürte als bei meiner letzten Gottesdienstvertretung in einer mir bisher unbekannten Kirchgemeinde. Man sieht die Mitfeiernden – sofern sie ihre Kamera eingeschaltet haben – in ihren Wohnzimmern, Küchen und Büros sitzen und schaut sich gegenseitig an. Ausserdem kann man via Kommentare mitbeten und mitgestalten. Auch das gemeinsame Gespräch in sogenannten Breakout-Räumen lässt einen in «echt» begegnen. Doch gerade diese Möglichkeit gefiel einer Bekannten von mir überhaupt nicht: Es war ihr zu nah.

Schon öfter habe ich über Begegnungen auf Twitter und Instagram gestaunt, weil sie plötzlich sehr «echten» Charakter bekamen. Auf meine Umfrage bezüglich Vorurteile hat sich eine angehende Berufskollegin gemeldet und mir Material zur digitalen Kirche zur Verfügung gestellt, das sie im vergangenen Jahr erarbeitet hat. Ich war zuerst einfach nur baff über dieses grosszügige Hilfsangebot und dann natürlich überaus dankbar. Für mich fühlt sich Gemeinschaft auch im Digitalen teilweise sehr real an.

Zu oberflächlich, zu viel Selbstdarstellung!

Ist nicht jeder Gottesdienst, jede Predigt oder jedes Sprechen, bei welcher kirchlichen Veranstaltung auch immer, eine Art Selbstdarstellung? Irgendwie schon. Denn ich kann meine Persönlichkeit nicht von dem trennen, was ich in meinem Beruf als Pfarrerin nach aussen trage. Auch der vorliegende Text ist im Grunde eine Selbstdarstellung, weil er von mir geschrieben und mit meinen eigenen Erfahrungen ergänzt wurde.

Aber ich bin mir bewusst, um diese Art von Selbstdarstellung geht es nicht. Eher sind es Äusserlichkeiten, wie sie beispielsweise auf Instagram sehr deutlich werden, wenn auf Fotos alles inszeniert wird. Die sogenannten Influencer*innen verstehen es, mit Bild und Text Geschichten zu erzählen und nebenbei Produkte zu bewerben.

Schaut man hingegen auf die Sinnfluencer*innen – so werden Vertreter*innen der digitalen Kirche auch genannt –, begegnet man tatsächlich sehr selbstkritischen, reflektierten Menschen, die Oberflächlichkeiten gerne hinterfragen und mit anderen diskutieren. Natürlich hängt es stark von der Persönlichkeit ab, auf welche Art dies geschieht. Deshalb kommt es wie im analogen Leben auf Sympathie an. So gibt es digitale Churchies, mit deren Gebaren ich kaum etwas anfangen kann und die für mich tatsächlich zu oberflächlich daherkommen. Andere finden aber genau dort, was sie brauchen. Und das ist doch völlig okay so.

Gefährlich!

Ja, tatsächlich kann auch digitale Kirche gefährlich sein. Nämlich dann, wenn man Gesehenes, Gelesenes oder Gehörtes nicht kritisch hinterfragt. Dessen muss man sich einfach bewusst sein. Gerade auch dann, wenn es um Kinder und Jugendliche geht, die in ihrer Persönlichkeit und in ihrem Glauben noch sehr wenig gefestigt sind. Aber das gilt ebenso im analogen Leben – das digitale sollte also nicht aus diesem Grund schon von vornherein abgelehnt werden.

Mittlerweile sind wohl fast alle religiösen Strömungen auf Social Media präsent. Auch solche, die Glaubensinhalte verbreiten, die meiner Meinung nach mit Vorsicht zu geniessen sind. Ich denke hierbei an Accounts, welche die Nächstenliebe hochhalten und auf das Vorbild von Jesus verweisen, dann aber gleichzeitig homophobe und sexistische Äusserungen posten. Damit werden Menschen verletzt und ausgeschlossen, was für mich nichts Christliches mehr an sich hat. Wenn man also Augen und Ohren offenhält, selbst mitdenkt oder sich gegebenenfalls abgrenzt, indem man seine eigene Haltung stark macht, muss man sich keine unnötigen Sorgen machen.

Nur etwas für junge Leute, es braucht spezielles Know-How!

Dieses Vorurteil kann ich am wenigsten nachvollziehen und wäre froh, wenn es bald nicht mehr auftauchen würde. Denn ich bin versucht zu sagen: «Na und? Toll, wenn etwas, das mit Kirche zu tun hat, auch für junge Leute ist!»

Ausserdem: Schaut man sich etwas in der digitalen Kirche um, merkt man schnell, dass dieses «jung» ein sehr dehnbarer Begriff ist und mitunter auch «junggeblieben» einschliesst.

Von zwei Kolleginnen weiss ich, dass auch 80-Jährige an ihren Zoom-Gottesdiensten teilnehmen. Sie haben es sich von ihren Enkeln zeigen lassen. Von der Technik her klappt es nicht immer optimal. Aber das ist für diese Senior*innen kein Hinderungsgrund, um weiterhin mitzumachen.

Das Digitale berührt dermassen viel in unserem Leben, dass sich keine Altersgruppe mehr vollständig «undigital» bewegen kann. Das geht vom Online-Shopping über das Nachverfolgen von Paketsendungen bis hin zur Rückfahrkamera und Einparkhilfe des Autos. Ja, sogar Reka-Checks als «Bargeld» werden wohl bald der Geschichte angehören. Stattdessen hat man für vielerlei eine Karte und ein Login mit Passwort. Das mag einem gefallen oder nicht, leben damit müssen alle.

 

Fazit

Ein paar wenige Vorurteile, die nur teilweise berechtig sind, sollten niemanden davon abhalten, in der digitalen Kirche vorbeizuschauen.

Und sie sollten auch nie dazu verwendet werden, die Kirche im digitalen Raum kleinzureden. Stattdessen geben gerade solche Vorbehalte Anlass, ins Gespräch zu kommen und gemeinsam dieses nicht mehr so unbekannte Feld zu erkunden …

Tipps

Wer sich noch etwas vertieft mit der Thematik der digitalen Kirche beschäftigen möchte, dem kann ich das Lesebuch «Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft» der Evangelischen Kirche in Deutschland empfehlen.

Zum Download als PDF: Kommunikation des Evangeliums in der digitalen Gesellschaft

Es gibt ansprechende Plattformen, die digitale Kirche «machen»:

- RefLab mit Blogs und Podcasts: Less noise – more conversation. | RefLab
- Worte und Musik auf kirchenradio.ch
- Bilder, Worte und Musik auf kirchenvideo.ch

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