Im Januar bescheint die Sonne bei uns zwar die verschneiten Berghänge, doch bis hinab auf den Talboden fallen nur kurz ein paar Strahlen. Dann flaniert das halbe Dorf auf dem kleinen Spazierweg auf und ab, wie man es in Italien abends an der Uferpromenade tut.
Viele Leute bleiben aber auch zu Hause, aus Furcht vor Glatteis oder weil ihnen der dunkle Winter aufs Gemüt geschlagen hat. Bignas Urgrossmutter, die Tatta, ist so eine, und um sie an die frische Luft zu locken, ging Bigna gestern bei ihr vorbei. Mit Erfolg, denn ich sah die Tatta auf dem Bänklein vor dem Dorfladen sitzen, klein und krumm wie ein verfrorener Spatz.
«Wie hast du das geschafft?», wollte ich von Bigna wissen. «Ich habe für sie gesungen.» «Das muss ja ein tolles Lied gewesen sein.» «Es heisst ‹Ah, cridè cun me›», antwortete Bigna. Und weil mir der Titel nichts sagte, sang sie es mir gleich vor, ein schauerliches Lied über modernde Leichen, das endete:
Ah nu saintast tü illa s-churdüna /La terrur e sduvlamaint dals verms / Ah pür sorta in ta trist’avdaunza / Tieu Aspet am mett’in disperaunza / Fin damaun saro eir eau tiers te
Zu Deutsch in etwa: Ach, fühlst du nicht im Finstern / Das Grausen und das Würmerwimmeln / Ach, komm aus deinem traurigen Gehäuse / Dich so zu sehen, macht mich ganz verzweifelt / Bis morgen bin ich auch bei dir
«Hast du überhaupt eine Ahnung, was du da singst?», fragte ich entsetzt. Bignas Augen leuchteten, als sie feststellte: «Das mit den Würmern gefällt mir am besten.» «Aber wenn jemand schon schwermütig ist, singt man ihm doch kein solches Lied!», entgegnete ich. «Wieso nicht? Die Tatta hat sogar mitgesummt, und dann haben wir zusammen geheult, so richtig Rotz und Wasser. Heute singe ich für Peider und Uorschla, Mama sagt, die steigen nicht einmal mehr aus dem Bett, ausser zum Pinkeln.» «Darf ich mitkommen?» Bigna schüttelte den Kopf. «Zu viert passen wir nicht in ihr Bett. Ausserdem bekomme ich dann vielleicht kein Trinkgeld.»