Kindermund 21. Februar 2017, von Tim Krohn

Gesetze und Gebräuche des Krieges in der Val Müstair

Kindermund

«Wenn ich Bauchweh habe, weil ich zu viele grüne Kirschen gegessen habe, bin ich dann verwundet? Auch wenn ich keinen Verband trage?», fragte Bigna.

Bigna mag es, sich Arme und Beine zu verbinden und die Haut mit Heftpflastern zuzukleistern. Sie findet sich schön. Zudem sei es praktisch, weil man in die Verbände vielerlei stecken könne, Blü­tenblätter, Brot, Bleistiftstummel. Die Sachen finden sich morgens in ihrem Bett wieder.

Als wir bei der Stallräumung ­einen alten Zettel im Mist entdeckten, «Gesetze und Gebräuche des Krieges», beschäftigte das Papier sie sehr. Besonders ein Satz: «Die Beraubung von Verwundeten und Toten ist verboten.» «Dann dürfte Chatrina die Sachen gar nicht wegwerfen, die mir in der Nacht aus dem Verband gefallen sind!» «Nur weil du einen Verband trägst, bist du noch nicht verwundet», sagte ich. «Wann ist man denn verwundet?» «Wenn ­einem etwas weh tut.» «Wenn ich Bauchweh habe, weil ich zu viele grüne Kirschen gegessen habe, bin ich dann verwundet?» «Im Sinne des Roten Kreuzes vermutlich ja.» «Auch wenn ich keinen Verband trage?» «Ja.» «Und wenn ich kein Bauchweh habe, aber der Verband scheuert und tut weh, bin ich dann verwundet?» Ich lachte. «Ja, wohl schon. Aber jetzt gib mir das Papier. Ich glaube, ich will darüber schreiben.»

Bigna überhörte mich. «Also wenn mir irgendwas weh tut, darf mir niemand mehr etwas klauen? Nicht einmal Chatrina, obwohl sie meine Mutter ist?» «Man sollte überhaupt nie jemandem etwas wegnehmen.» «Ausser es ist gefährlich, eine Schere zum Beispiel. Weil man sich damit weh machen kann.» «Ja, aber jetzt gib mir das Papier.» «Du kannst es mir nicht wegnehmen.» «Das ist mein Stall», erinnerte ich sie, «du hast es mir weggenommen.» «Ja, und? Du bist nicht verwundet, und tot auch nicht.»

«Ich habe mir einen Nagel eingerissen, das tut ein bisschen weg», versuchte ich es. Bigna untersuchte gleich meinen Daumen. «Den muss man verbinden», stellte sie fest und rannte nach ihrem Verbandkästchen. Die Prozedur dauer­te den halben Vormittag, erst wurde amputiert, dann verbunden und gegipst. «Jetzt gib mir das Papier», bat ich, als Dr. Bigna mich entliess. «Nein, du bist krank geschrieben. Du darfst gar nicht arbeiten.» Sagte sie nur. Das gab sie mir dafür schriftlich.

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

Mehr zu diesem Thema

Eine Giraffe und ich sassen kurz zu Tisch
29. Mai 2020, von Tim Krohn

Eine Giraffe und ich sassen kurz zu Tisch

Was ist mehr wert: ein Kind, eine Kuh oder ein Bild?
30. April 2020, von Tim Krohn

Was ist mehr wert: ein Kind, eine Kuh oder ein Bild?

Der Wert von Geld, der Wert eines guten Buches
30. August 2019, von Tim Krohn

Der Wert von Geld, der Wert eines guten Buches

Auf der Mauer, wo die wilden Katzen sitzen
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Auf der Mauer, wo die wilden Katzen sitzen

Das tote Reh und der Trost im Sterben
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Das tote Reh und der Trost im Sterben

Was wir sehen, wenn wir nicht mehr sehen
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Was wir sehen, wenn wir nicht mehr sehen

Wem gehören die Blumen und ein offenes Wort?
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Wem gehören die Blumen und ein offenes Wort?

Der Winter kommt, wenn Jon die Sterne hängt
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Der Winter kommt, wenn Jon die Sterne hängt

Was bleibt, wenn im Winter alles stirbt
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Was bleibt, wenn im Winter alles stirbt

Ein frohes Neujahr nach Dreikönig und Habakuk
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Ein frohes Neujahr nach Dreikönig und Habakuk

Der Frühling kommt – oder das Leben als Spinne
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Der Frühling kommt – oder das Leben als Spinne

Das Leiden der Hirsche an der Nettigkeit der Menschen
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Das Leiden der Hirsche an der Nettigkeit der Menschen

Vorfreude oder wenn die ersten Kirschen blühen
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Vorfreude oder wenn die ersten Kirschen blühen

Bignas langer Arm – wann ist eine Waffe eine Waffe?
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Bignas langer Arm – wann ist eine Waffe eine Waffe?

Schubkarre, viel Mist, die Prinzessin und das Glück
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Schubkarre, viel Mist, die Prinzessin und das Glück

Einer dieser Montage, an dem die Nelken brechen
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Einer dieser Montage, an dem die Nelken brechen

Der Hahn, die Hühner, die Ehe und die Nüsse
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Der Hahn, die Hühner, die Ehe und die Nüsse

Das Christkind und die Natur der Dinge bei Nacht
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Das Christkind und die Natur der Dinge bei Nacht

Ach, komm aus deinem traurigen Gehäuse
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Ach, komm aus deinem traurigen Gehäuse

Liebenswerte Polizei oder Kampf der Fliehkraft
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Liebenswerte Polizei oder Kampf der Fliehkraft

Ganz normaler Alltag im Münstertaler Schnee
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Ganz normaler Alltag im Münstertaler Schnee

Zwist und die bitteren Tränen der Baronin
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Zwist und die bitteren Tränen der Baronin

Zelle ohne Telefon oder Tauchen in klein
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Zelle ohne Telefon oder Tauchen in klein

Sekundäres Ertrinken oder Bigna gräbt einen See
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Sekundäres Ertrinken oder Bigna gräbt einen See

Fast schon berühmt oder Prinzessin im Druck
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Fast schon berühmt oder Prinzessin im Druck

Neujahr und der Trick mit dem Schnürsenkel
21. Februar 2017, von Tim Krohn

Neujahr und der Trick mit dem Schnürsenkel

Loblied auf den nachbarlichen Bewegungsmelder
09. Januar 2017, von Richard Reich

Loblied auf den nachbarlichen Bewegungsmelder

Interview mit einer Schneekanone im Hochsommer
09. Januar 2017, von Richard Reich

Interview mit einer Schneekanone im Hochsommer

Selbstfindung im Zeitalter der Spurensicherung
09. Januar 2017, von Richard Reich

Selbstfindung im Zeitalter der Spurensicherung

Lex Outdoor – Atmungsaktivisten an der Macht
09. Januar 2017, von Richard Reich

Lex Outdoor – Atmungsaktivisten an der Macht

Vom weitsichtigen Umgang mit inneren Unruhen
09. Januar 2017, von Richard Reich

Vom weitsichtigen Umgang mit inneren Unruhen

Die perfekte App für einen Top-Advent
09. Januar 2017, von Richard Reich

Die perfekte App für einen Top-Advent