Meinung 09. Januar 2017, von Richard Reich

Lex Outdoor – Atmungsaktivisten an der Macht

Schöpfungen

Richard Reich kehrt nach längerem Auslandaufenthalt ins Land zurück. Und kommt sich fremd vor, weil er gut angezogen ist.

Als ich eines Sommers von einem längeren Auslandaufenthalt heimkehrte, spürte ich beim Aussteigenaus dem Transeuropa Express, dass ich hier fremd war. Am Bahnhof schaute es immer noch gleich aus: die Halle, das Landesmuseum, der Fluss. Aber die Menschen hatten sich in meiner Abwesenheit verändert. Meine Mitbürger kamen mir abweisend vor, manch einer starrte mich böse an, als hätte ich aus der Fremde die Pest mitgebracht. Verwirrt ging ich über die Bahnhofstrasse zum See. Dabei schielte ich aus den Augenwinkeln auf die Passanten, was diese ihrerseits scheeläugig in meine Richtung taten. Kein Zweifel: Irgendwie fiel ich negativ auf.

Ich kam zum Paradeplatz, und jetzt endlich erkannte ich die Verän­derung: Alle Menschen hier – ausser mir – trugen Sportkleidung! Und zwar nicht etwa ordinäre Fussball-Trikots, sondern modisch geschnittene, pastellfarben assortierte Stoffe, die das Asketische der meist mageren Körper betonten. In der Konditorei Sprüngli sass wie ehedem noble Kundschaft, jedoch nicht mehr in goldgesäumten Jupes und dezenten Bundfaltenhosen, sondern in nicht minder kostspielig ausse­henden Knickerbockern und Wander­hemden, auf den Knien statt Gucci-Taschen winzige Rucksäcke. Sogar unsere Geldinstitute hatten den Dresscode umgestellt: Statt Anzug und Deuxpièces trugen die Bankerinnen und Banker nun Indiana-Jones-artige Monturen von offenbar ex­klusiven Brands namens Wolfshaut, Mammut und Nordgesicht.

«Ja, wie kommst du denn daher?», bellte mich jemand an – es war Thomas. Erleichtert wollte ich meinen alten Schulfreund umarmen, doch der stiess mich von sich und knurrte: «Hugo-Boss-Veston? Hilfiger-Jeans? Bist du von Sinnen?!» Panisch zerrte er mich in eine Seitengasse. Und dort erklärte er mir dann alles.

Nämlich, dass es im Land neue Bekleidungsvorschriften gebe: das Atmungsaktiv-Obligatorium, im Volksmund auch Lex Outdoor genannt. Alle Bürgerinnen und Bürger seien angehalten, sich in der Öffentlichkeit nur noch in Funktionsmembranen zu bewegen. Nur diese könnten durch elektrochemischen Abtransport körpereigener Wasserdampfmole­küle die pausenlose Höchstleistung des arbeitstätigen (bzw. Freizeit­industrie-aktiven) Individuums garantieren, was dem Bruttosozialprodukt zudiene. Zuwiderhandlungen würden streng geahndet. «Sprich: Wenn du dich nicht sofort umziehst», zischte Thomas, «kriegst du ein Jahr Indoor unbedingt!» Dann zog er die Kapuze seiner Wolfskin über den Kopf und liess mich stehen.

Kolumne von Richard Reich und Tim Krohn

Seit Anfang 2017 schreiben abwechselnd die Autoren Richard Reich zum Thema «Schöpfungen» und Tim Krohn zum Thema «Kindermund».

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