Meinung 09. Januar 2017, von Richard Reich

Interview mit einer Schneekanone im Hochsommer

Schöpfungen

Dank autarken Schneekanonen wird die Schweiz wieder zur einzig seligen Schneeinsel. Richard Reich schreibt, wie's geht.

Einige Tage nach Silvester machte ich eine Winterwanderung. Das neue Jahr hatte endlich den ersten Schnee gebracht, glücklich stapfte ich bergwärts. Ich kam durch ein kahles Erlenwäldchen, dann zu einer Lichtung, wo etwas leise summte. Da stand eine Schneekanone und feuerte faustdicke Flocken in die Januarluft – obwohl ringsum alles weiss war. Was solls?, dachte ich, Schneekanonen gibts heutzutage eben überall. Und wanderte weiter.

Später im Jahr führte mich ein Osterspaziergang in dieselbe Gegend. Die Leber- und Schlüsselblümchen blühten, bloss jene Lichtung war noch tief verschneit. «Da staunst du!», schepperte eine fremde Stimme. «Wer spricht?», fragte ich verwirrt. «Na, ich!», lautete die Antwort, «die Snowqueen G-3000!» Meine alte Bekannte, die Schneekanone. Obwohl der Maien vor der Tür stand, schneite Snowqueen emsig weiter. «Aber es ist doch Frühling!», protestierte ich. «Sechsfaches Düsennukleatorsystem!», zischte die Kanone, «Schneefall garantiert bis 35 Grad! Steht in meiner Betriebsanleitung. Bin ja kein Amateur.»

35 Grad? Das wollte ich sehen! Am heissesten Tag des folgenden Sommers stieg ich auf direktem Weg zu jener Lichtung empor – die schneeweiss zwischen tiefgrünen Erlen lag. «Einskommavier Meter!», verkündete Snowqueen stolz. «Gratuliere!», lobte ich, «aber sag, Kanone, warum genau tust du das? Ich sehe weder Lift noch Skifahrer!» Da schüttelte Snowqueen genervt ihr Rohr und sprach: «Mann, ich schneie aus Prinzip! Schnee gehört einfach zu diesem Land, ja überhaupt zur Schöpfung! Und in Zeiten wie diesen …»

Ich war noch nicht überzeugt. «Zum Schneien brauchst du doch Wasser! Und wer bezahlt deine Stromrechnung?» Da höhnte die Kanone: «Siehst du irgendwo einen Schlauch? Oder ein Kabel? Höre, mein Lieber, wir Snowqueens G-3000 sind die nächste Generation: integrierte Sonnenkollektoren, automatische Grundwasser-Sonden! Alles völlig autark! Ohne irdische Anbindung!» Begeistert sprühte sie mir eine Ladung Neuschnee ins Gesicht.

Die Abkühlung tat wohl in der prallen Sonne, jedoch wurde mir diese militante Frau Holle etwas unheimlich. Ich wollte mich zum Gehen wenden, als ich im Augenwinkel etwas leuchten sah: Da oben lag ein zweites Schneefeld! Und dort noch eins! Und noch eins! «Kameradinnen am Werk», erklärte Snowqueen, «und das ist erst der Anfang! Ehe das Jahrhundert um ist, hat dieses Land seinen Urzustand wieder erreicht: eine einzige selige Schneeinsel!»

Neue Kolumne von Richard Reich und Tim Krohn

Seit Anfang 2017 schreiben in alternierender Reihenfolge die Autoren Richard Reich zum Thema «Schöpfungen» und Tim Krohn zum Thema «Kindermund».

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