Kindermund 30. August 2019, von Tim Krohn

Der Wert von Geld, der Wert eines guten Buches

Kindermund

«Nichts ist mehr wert als Geld!», findet Bigna. Aber vielleicht will sie später doch Bücher schreiben. Weil jammern gut tut.

Wir leben in einem aussterbenden Tal. Prächtige alte Häuser und Ställe stehen seit Jahrzehnten oder einem Jahrhundert leer. Wir versuchen, das eine oder andere zu ret­ten. Aber das kostet. Ende Mo­nat wissen Renata und ich nicht immer, wie die ausstehenden Rech­nungen begleichen.

Gestern kam Bigna dazu, als wir sie stöhnend sortierten in «Ärmer als wir, sofort zahlen», «Reich, kann warten» und «Verhandeln». «Aber du schreibst doch an­dauernd», wunderte sie sich, «ihr müsst doch stinkereich sein!» «Ich bin nicht Arzt oder Rechtsanwalt, nur Romanautor. Für Me­dizin oder um mit anderen zu strei­ten, geben die Leute viel mehr Geld aus als für Bücher.» Bignas Mutter hatte gerade einen Pro­zess führen müssen, der zum Glück für sie gut ausgegangen war. «Dafür sind sie dann gesund, oder sie gewinnen», sagte Bigna. Ich nickte. «Bücher machen aber auch gesund. Manche jedenfalls, die dafür umso mehr. Und wer liest, hat auch Besseres zu tun, als zu streiten.» «Egal», sagte Renata, «wir haben wenig Geld, trotzdem sind wir reicher als die meisten. Wir leben am schönsten Ort der Welt und tun, was uns glücklich macht. Das ist viel mehr wert.»

Bigna lachte ungläubig. «Mehr wert als Geld? Nichts ist mehr wert als Geld!» «Sogar alles», behaup­tete Renata. «Reiche Leute ohne Fantasie sind arme Hunde. Sie hocken auf ihrem Geld, und was haben sie davon? Arme Leute mit Fantasie dagegen sind reich, denn die schönsten Dinge geschehen sowieso im Kopf. Deshalb ist ein gutes Buch mehr wert als die teuerste Reise.» «Und auch ein kranker Mensch kann sie machen», fügte ich hinzu.

«Und wieso stöhnt ihr dann überhaupt?», fragte Bigna. «Weil es Spass macht», gestand ich. «Eigentlich gibt es nichts zu jammern. Es tut nur manchmal gut, sich ein bisschen zu bemitleiden.» «Ach, wenn das so ist», sagte sie, «werde ich später doch nicht reich, sondern schreibe auch Bücher.»

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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