Kindermund 21. Februar 2017, von Tim Krohn

Sekundäres Ertrinken oder Bigna gräbt einen See

Kindermund

Bigna mag es gruselig. Um den Kitzel der Möglichkeit des sekundären Ertrinkens auch zuhause zu ermöglichen, gräbt sie jetzt drauflos.

Bigna gräbt uns einen See. Das kam so: Renata und ich besitzen ein sehr schönes Schlauchboot aus un­seren Zeiten am Zürichsee. Seit wir in den Bergen leben, steht es im Keller, denn hier haben wir zwar einen der wohl schönsten Seen der Welt, den Lai da Rims, nur liegt der auf fast 2400 Metern, und dort schleppt man ungern ein Boot hinauf. Jetzt fahren wir aber zum Schippern über die Grenze, der Haidersee ist nicht allzu weit. Bigna sollte mit.

Nur war die alles andere als be­geistert: «In so einem See kann man ertrinken!» «Keine Sorge, wir haben Schwimmwesten. Ausserdem kann man in jeder Pfütze ertrinken, Kleinkinder jeden­falls.» Sie stutzte. «Das ist jetzt gelogen, oder?» «Nein wirklich. Es reicht, dass das Kind Wasser in die Lunge bekommt. Daran kann es noch Tage später sterben.» «Jetzt mach ihr nicht noch mehr Angst», schimpfte Renata.

Doch Bigna war neugierig geworden: «Wenn ich also ein Glas Wasser trinke, und ich verschlucke mich, kann ich daran sterben?» Ich zögerte. «Das dann wohl doch nicht. Aber rutschst du in der vollen Badewanne aus, findest in der Panik nicht gleich wieder hoch und schluckst – oder besser: atmest – Wasser. Dann kann es sein, dass deine Eltern dich zwar aus der Wanne ziehen und abtrocknen und zu Bett bringen, und alles scheint wieder in Ordnung. Aber am nächsten Morgen wachst du nicht mehr auf. Man nennt das sekundäres Ertrinken.» «Ganz schön gruselig», sagte Bigna mit leuchtenden Augen, «ich mag es gruselig.» «Dann kommst du mit auf den Haidersee?»

Bigna kam nicht nur mit. Das Bootfahren gefiel ihr so gut, dass sie gleich dableiben wollte. Oder wenigstens am nächsten Tag wieder hin. Leider muss ich ar­beiten, ausserdem wurde dem Baby im Auto schlecht. Also entschied Bigna, dass unser Dorf ei­nen eigenen See braucht. Den «Lai da Sekundäres Ertrinken». Weil das ihr neues Lieblingswort ist. Mit dem Aushub will sie einen Hügel für eine Wasserrutschbahn aufschichten, damit das Baden doppelt schön gefährlich wird. «Dann braucht man gar nicht mehr teuer zu verreisen, auf den Mount Everest oder so», erklärt sie allen Passanten.

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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