Kindermund 21. Februar 2017, von Tim Krohn

Einer dieser Montage, an dem die Nelken brechen

Kindermund

Wenn Bigna beim Darts so überhaupt nicht trifft, ist das gravierender, als Nelken zu knicken und keine Ideen zu haben – findet sie.

In meinem Schreibatelier hängt eine Dartscheibe, auf die ich manchmal Pfeile werfe. «Darf ich auch mal?», fragte Bigna durchs offene Fenster. Aus dem einen Mal wurden zwei Dutzend, denn Bigna, die sonst sehr geschickt ist, traf nicht – selbst dann nicht, wenn ich die Scheibe auf den Boden legte und Bigna auf den Tisch hob, sodass sie die Pfeile nur noch fallen lassen musste.

«Komm, nochmal, noch ein einziges kleines Mal», bettelte ich – verkehrte Welt –, aber Bigna hatte die Lust verloren. «Vielleicht ist heute einfach einer dieser Tage», sag­te ich im Versuch, sie zu trösten. Denn mein Versuch, zu einer halbwegs fruchtbaren Schreib­idee zu kommen, war auch schon der dritte nach zwei verworfenen Fragmenten, und Renata, meiner Frau, war ein Kissen auf das Kästchen mit den Hängenelken am Balkon gefallen, die zwei schönsten Knospen waren abgebrochen.

«Na ja, Nelken wachsen nach, und Ideen hat man auch viele», wandte Bigna ein. «Wenn ich dagegen nicht treffe, dann treffe ich nicht, und stell dir vor, es ist keine Zielscheibe, sondern ein Bär! Dann bin ich jetzt tot.» «Wie ist es denn mit deiner Steinschleuder? Mit der triffst du doch bestimmt.» Aber die hatte sie inzwischen verloren, oder einer der Jungen hatte sie ihr gestohlen. «Dazu kommt», sagte sie finster, «dass ich vorhin aus Versehen eine Hummel zertreten habe. Sie war zwar schon tot, aber ich hatte sie extra auf der Treppe liegen­lassen, weil sie so schön weich aus­sah. Als ich wieder runterkam, hatte ich sie vergessen, und jetzt ist sie tot und platt.»

«Unsere Hängenelken kommen auch nicht nochmal», erwiderte ich. «Wir versuchen jedes Jahr, sie zu überwintern, aber sie bekom­men immer Mehltau.» «Das ist, weil ihr sie giesst, man darf nur ein bisschen Schnee drauftun», wusste Bigna. Renata hatte gehört, die echten Engadiner Hänge­nelken seien ausgestorben, und die neuen Züchtungen taugten schlicht nichts, aber Bignas Rat warf doch einen Hoffnungs­schimmer in diesen trüben Tag. Und als sie mit geschlossenen Augen nochmals warf, steckte der Pfeil zwar nicht, doch wenigstens blieb er auf der Scheibe liegen.

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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