Kindermund 21. Februar 2017, von Tim Krohn

Ein frohes Neujahr nach Dreikönig und Habakuk

Kindermund

Bigna war krank zu Beginn des Jahres. «Jetzt sind alle mitten drin, und ich war nicht dabei, das ist gemein. Und sie wünschen mir nicht mal etwas», sagt sie.

Nach der grossen Kälte versank das Dorf im Schnee. Wir be­wegten uns auf schmalen Pfaden, daneben türmten sich die Schneemassen. Bigna blieb weiter ver­schwunden. Ich malte mir aus, dass sie ihre eigenen Gänge durch die Gassen grub oder in Nots Stall im Heu Winterschlaf hielt. Erst als Anfang Februar die Sonne wieder durchbrach, der Schnee zu­sehends verdampfte und die Räum­mannschaften die Pfade wieder zu Strassen und Plätzen frästen, sah ich sie durchs Dorf rennen und jeder und jedem, der ihr begegnete, «Bun di, bun on» wünschen, frohes Neujahr – ganz so, als ob sie die ersten Wochen wirklich verschlafen hätte.

Tatsächlich war die Frist für Neujahrswünsche längst verstrichen; die meisten sagen, mit Dreikönig, für einige gilt auch der 15., Tag des heiligen Habakuk, als Grenze. Die Leute lachten ent­weder oder erwiderten flapsig: «Bun di, bun rest.» Darüber empörte Bigna sich jedesmal von Neuem und zeterte. Sie bestand darauf, dass man ihr viele schöne Dinge wünschte. Als ich auf der Post ihre Mutter Chatrina traf, erzählte sie: «Daran bin ich schuld. Bigna lag zu Neujahr mit Grippe im Bett. Dabei hatte sie sich so darauf gefreut, Neujahrswün­sche einzusammeln. Ich musste sie wieder und wieder vertrösten, die Grippe war sehr hartnäckig.»

Als Bigna einer kleinen Gruppe Skitouristen nachstellte und wieder schimpfte, was das Zeug hielt, fing ich sie ab. «Bun di, bun on», sagte ich, «ein glückliches, gesundes, fröhliches, leichtes Jahr wünsche ich dir.» «Und ein langes», forderte sie. «Und ein langes. Warum das?» «Weil ich im Bett lie­gen musste, und jetzt ist das Schönste schon vorbei.» «Es war Winter, jetzt ist immer noch Winter. Du hast nichts verpasst.» «Doch, den Anfang. Jetzt sind alle mitten drin, und ich war nicht dabei, das ist gemein. Und dann wünschen sie mir nicht mal etwas.» «Das waren Touristen aus der Stadt, dort wünscht man sich nichts. Man grüsst sich nicht einmal. Wahrscheinlich verstehen sie auch kein Romanisch. Und du hast mir auch noch nichts gewünscht.» «Stimmt», sagte sie überrascht. «Bun di, bun rest.» «Ich denke, du findest den Spruch doof?» «Doch, aber es ist lustig, ihn zu sagen.»

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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