Kindermund 21. Februar 2017, von Tim Krohn

Schubkarre, viel Mist, die Prinzessin und das Glück

Kindermund

«Ich bin die Prinzessin auf dem Drachen, und er stinkt nach Mist wie ein richtiger», sagt Bigna. «Was bedeutet das schon?», fragte ich. «Alles», rief sie.

Mit Bignas Hilfe habe ich unseren alten Stall ausgeräumt. Ich füllte Schubkarre um Schubkarre mit altem Mist, Sand und Lecksalz, Bigna durchsuchte die Ladungen nach Kronkorken, verbogenen Nägeln und Isolierbandfetzen. Aus den Abfällen legte sie auf den verzogenen, uringetränkten Bohlen ein Mosaik. Wenn ich wieder eine Schubkarre voll hatte, setzte sie sich oben drauf und spielte Prinzessin auf dem Drachen. Sie fuhr auch in der leeren Karre zurück. Am meisten Spass machte ihr die Schwelle des Stalltors; mit voller Karre schaffte ich die jeweils nur, wenn ich Schwung holte. Weil die Schubkarre einen satt aufgeblasenen Gummipneu hat, sprang sie dann hoch, und Bigna sprang mit.

«Höher», rief sie jedes Mal, «schneller, höher.» Also nahm ich jedes Mal etwas mehr Anlauf, ­Bigna hüpfte auf dem Mist höher, aber irgendwann sagte ich: «Schneller will ich nicht, sonst fliegst du mir noch in die Brennnesseln. Ausserdem ist die Karre schwer.» «Du meinst, der Mist ist schwer», sagte sie. «Aber mit der leeren Karre geht es schneller, im Stall wachsen auch keine Brennnesseln.» «Das stimmt, aber du allein bist wieder zu leicht, die Karre springt, wohin sie will. Ich will nicht, dass du dir weh machst.»

Bigna dachte nach. «Dann leerst du eben nicht allen Mist aus», schlug sie vor, «nur die Hälfte.» «Dann muss ich viel öfter laufen.» «Ja und? Dafür haben wir Spass.» «Aber ich will fertig werden, ich habe noch anderes zu tun.» «Was zum Beispiel?» «Ich sollte schreiben.» «Worüber?» «Das weiss ich noch nicht.» «Dann ist doch gut, wenn du hier nicht zu schnell fertig bist.» «Ich brauche Zeit, um zu überlegen, was ich schreiben will.» «Ich wette, du schreibst sowieso über mich.» «Das habe ich vor, aber auch da muss ich wissen, was ich erzählen will.» «Eben das: Dass ich die Prinzessin auf dem Drachen bin, und dass der Drache nach Mist stinkt wie ein richtiger.» «Was bedeutet das schon?», fragte ich. «Alles», rief sie verwundert, «das bedeutet alles.»

«Na ja», sagte ich nur und sah zu, wie Bigna ihr Mützchen wieder aufsetzte, das bei der ersten Fahrt zu Boden gefallen war, und verärgert davonstapfte. Und wusste jetzt erst, was sie gemeint hatte.

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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