Kindermund 21. Februar 2017, von Tim Krohn

Das Leiden der Hirsche an der Nettigkeit der Menschen

Kindermund

Der Autor wollte doch nur tierfreundlich sein. «Das tut dem Hirsch aber nicht gut», sagte Bigna. Und sie hatte recht.

Kürzlich erzählte Bigna, dass auf Nots Hof ein Hirsch den Kompost geplündert hatte. Das Kompostgitter war zwar gedeckt gewesen. Doch der Hirsch hatte das Gitter mitsamt Abdeckung umgerissen. «Ja, zu uns kommt auch einer», erwiderte ich fröhlich. «Nur decken wir den Kompost gar nicht ab. Der Winter war so lang und hart, soll der Hirsch sich ruhig satt fressen.» Bigna sah mich schräg an, dann sagte sie: «Das tut dem Hirsch aber nicht gut.» Sie nimmt mir immer noch übel, dass ich die Spinnen erschlagen habe, dachte ich, und mag mir die gute Tat nicht gönnen.

Dann rief gestern der Wildhüter an: «Wir haben Probleme mit den Hirschen im Dorf. Ein paar sind gestorben, viele sind krank. Der Kompost, den sie fressen, bekommt ihnen nicht, ihr Magen ist übersäuert.» Mir schoss das Blut in den Kopf, während er fortfuhr. «Wenn man den Hirschfährten im Schnee folgt, führt eine genau zu Ihrem Garten.» «Ich weiss, ich dachte, wir tun ihnen etwas Gutes», gestand ich. «Wir haben mehrmals im Gemeindeblatt darauf hingewiesen, wie schädlich der Kompost ist», sagte er freundlicher, als ich verdient hatte, «der Abfall muss mit Brettern bedeckt werden, die mit Seilen festgezurrt sind. Das Entsorgen von losen Küchenabfälle in ungenügenden Einrichtungen steht gar unter Strafe.» Ich versprach eilig, mich um eine angemessene Abdeckung zu kümmern, und tat es auch.

Trotzdem konnte ich nachts nicht schlafen. Ich hatte keine Ahnung, ob mein Versuch, den Komposthaufen mit einem alten Zuberdeckel und Abschleppseil zu sichern, einen Bock am Plündern hinderte. Ständig sah ich Hirsche vor mir, die sich in Krämpfen wanden, im Seil verhedderten und dabei strangulierten. Zweimal stand ich auf und tastete mich im Dunkeln bei 20 Grad minus das vereiste Strässchen hinab, um mein Gewissen zu beruhigen. Wirklich blieb die Abdeckung bis zum Morgen unberührt. Nur hatte meine Frau – die, weil sie stillte, sowieso schon chronisch übernächtigt war – meinetwegen kein Auge zugetan, und beim Frühstück verkündete sie ungewohnt harsch: «Bevor das jede Nacht so geht, werfe ich das Grünzeug lieber in den Müll. Daran bist dann aber du schuld.»

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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