Kindermund 30. April 2020, von Tim Krohn

Was ist mehr wert: ein Kind, eine Kuh oder ein Bild?

Kindermund

Polizist Bertram lässt die Autos über Bignas Alpaufzug aus Kreide fahren. «Mörder», schreit sie. Und dann hält er nicht mal den Zwei-Meter-Abstand ein.

Seit Corona fahren kaum noch Autos durch die Val Müstair, es ist ganz, als hätten wir endlich die lang umkämpfte Umfahrung. Bigna spielt nun oft auf der Strasse, am liebsten vor unserem Haus. Es ist eine der engsten Stellen, mehr als ein Auto hat nicht Platz, Fussgängerweg gibt es keinen. Um an Bigna vorbeizukommen, musste der Fahrer jeweils ganz schön zirkeln, sie presste sich an die Hauswand und rief: «Zwei Meter Abstand, Dummkopf.»

Am Nachmittag kam sie mit Strassenkreide wieder, setzte sich mitten auf die Fahrbahn und begann zu malen. Es dauerte ziemlich lange, bis ein Auto kam, dummerweise war es Bertram, ­einer unserer Polizisten. Er stieg aus und betrachtete ihr Werk, dann erklärte er: «Das sind zwar sehr schöne Osterhasen, trotzdem ist es keine gute Idee, auf der Strasse zu malen. Hier fahren Autos.» «Das sind keine Hasen, sondern Kühe», erklärte Bigna gereizt, «das ist ein Alpaufzug. Und zum Alpaufzug müssen die Autos warten. Das ist auch in echt so.»

Mittlerweile hatte sich eine kleine Kolonne gebildet. «Trotzdem muss ich dich bitten, jetzt zur Seite zu gehen.» Bertram trug schon mal das Kübelchen mit der Kreide von der Strasse. «Willst du, dass sie die Kühe überfahren?», fragte Bigna und wollte weitermalen. Doch Bertram hob sie kurzerhand hoch und trug sie von der Fahrbahn. Bigna zappelte und wehrte sich. «Mörder», schrie sie, «zwei Meter Abstand, jeder hält zwei Meter Abstand!»

Ich hatte von der Treppe aus zugesehen, kam herunter und nahm ihm das Kind ab. Entschuldigend sagte er: «Ich wüsste auch gern, welcher Idiot dafür verantwortlich ist, dass der Bau der Umfahrung von Jahr zu Jahr verschoben wird. Für die Kinder hier ist Corona tatsächlich ein Segen. Trotzdem muss ich meine Pflicht tun.»

Ich trug Bigna die Treppe hoch, und wir sahen zu, wie Bertram den Verkehr regelte und den kleinen Stau auflöste. Bigna klagte: «Er hätte mich nicht anfassen dürfen, oder?» «Nein, aber er hat es bestimmt nur gut gemeint.» Bald war die Strasse wieder leer. Bigna fragte: «Wie findest du meinen Alpaufzug?» Ich nickte. «Nicht schlecht, aber es fehlen noch die Hirten.»

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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