Kindermund 21. Februar 2017, von Tim Krohn

Der Frühling kommt – oder das Leben als Spinne

Kindermund

«Ich hoffe, im nächsten Leben bist du eine Spinne, und jemand erschlägt dich», sagte Bigna finster.

Wenn im Flachland schon die Krokusse blühen, schmilzt bei uns erst zaghaft der Schnee. Unser Frühling kündigt sich anders an. Die Sonne schafft es mittags wieder über den Piz Mezdi. Die Siebenschläfer wachen auf und rumoren hinter der Täfelung unseres alten Bauernhauses. Und es ist die kurze Zeit der Hausspinnen. Es sind keine Netzspinnen, sondern Jagdspinnen, und für einige Tage sind wir nirgends vor ihnen sicher. Gestern fiel plötzlich eine aus einer Mütze unseres Neugeborenen. Ich schrie vor Schreck, zog den Hausschuh aus und machte kurzen Prozess.

Gerade da trat Bigna zur Tür herein. Sie kommt nun manchmal zu uns, um Bücher anzusehen. Sie schrie auch, schimpfte und weinte. «Mörder», rief sie, «aschaschin!» Ich holte ein Küchenpapier, um die tote Spinne wegzuputzen. Als ich wiederkam, kniete Bigna vor der kleinen, platt geschlagenen Leiche, sah sie fassungslos an und vergoss Tränen. «Darf ich sie wegmachen?», fragte ich. Bigna schüttelte den Kopf. «Erst musst du dich bei ihr entschuldigen.» «Entschuldige», sagte ich und nahm ihre Überreste mit dem Papier auf.

Bignas Tränen versiegten, aber das Schluchzen blieb. «Es tut mir leid. Ich wollte das Baby beschützen.» «Sie war doch gar nicht beim Baby.» Und ich hatte auch nicht die Wahrheit gesagt: Ich hätte die Spinne ebenso erschlagen, wenn wir kinderlos wären. In unser Haus verirren sich viele Tiere. Spinnen, Bienen, Wespen, Tausendfüssler, all die fange ich und setze sie aus. Ekle ich mich, gebe ich dem Tier einen Namen. Manchmal erfinde ich ihm eine kleine Biografie. Jagdspinnen lassen mir dafür keine Zeit.

Ich hoffte, das leuchte auch Bigna ein. Doch sie sagte nur: «Sie hat dir überhaupt nichts getan. Ja, wenn sie dich gebissen hätte…» «Ich will nicht warten, bis sie mich beisst, oder unser Baby.» Wieder schob ich das Baby vor. «Ich hoffe, im nächsten Leben bist du eine Spinne, und jemand erschlägt dich», sagte sie finster. «Dafür werde ich dann als etwas Schönes wiedergeboren, als Schwan oder als Bigna», sagte ich bemüht heiter. Bigna schüttelte den Kopf: «Nein, immer nur Spinne, zehnmal Spinne.»

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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