Kindermund 21. Februar 2017, von Tim Krohn

Zwist und die bitteren Tränen der Baronin

Kindermund

Wenn zwei sich streiten, kann es laut werden. Bigna mag das nicht – obwohl nicht Streiten noch mehr weh tun kann. Aber auch Schreien nützt mitunter nichts mehr.

Heute brachte ich Bigna zum Weinen. Renata und ich hatten einen Ehekrach. Während das Baby gluck­send am Boden spielte, brüllten wir uns an. Früher war sowas Renata noch peinlich ge­we­sen, ja, die Heftigkeit unserer Aus­einandersetzungen hatte uns gar zur Paartherapeutin geführt. Die hatte gelacht. «Wissen Sie was? Mein Mann und ich haben auch immer so laut gestritten. Unsere be­freundeten Paare dagegen stritten sich nie. Ich war sicher, etwas stimmt mit uns nicht. Bis ich eines Tages feststellte, dass alle un­sere Bekannten inzwischen getrennt waren, nur wir nicht.»

Renata sah darin eine Art «Lizenz zum Brüllen», sie wurde mit jedem Streit lauter und begann es offensichtlich zu geniessen. Für das Baby waren unsere gelegent­li­chen Ausraster ganz normal, während ich sie als notwendiges Übel auf mich nahm.

Bigna konnte das nicht. Ich bemerk­te sie erst, als Renata unseren Streit unterbrach und ruhig sagte: «Bigna ist da.» Zitternd stand sie in der Tür, vollbepackt mit Büchern, die sie geborgt hatte. «Komm rein», sagte ich, doch sie schüttelte den Kopf und blieb auf der Schwelle, bis ich ihr die Bü­cher abnahm und mich mit ihr vors Haus setzte.

Nach einer Weile sagte sie: «Du darfst nicht weggehen.» «Das habe ich auch nicht vor», versicherte ich, «es ist mehr so, dass Streiten weh tut, aber nicht Streiten manch­mal noch viel mehr.» Ich erzählte von der Therapeutin. Bigna begann zu weinen, zuerst still, dann immer heftiger. «Mamma und Bap haben auch gebrüllt», er­zählte sie endlich, «bis ich geschrien habe, hört auf! Da hörten sie auf, und Bap verliess uns. Da­ran bin also ich schuld, ich Halunkin.» Der romanische Ausdruck, den sie verwendete – baro­nessa futüda, die futsche Baro­nin –, war so witzig, dass ich ein Lachen nicht verkneifen konnte.

«Ganz bestimmt bist du nicht schuld», versicherte ich. «Eher ist es so, dass manchmal selbst Schreien nichts mehr nützt. Und ja, es kann auch sein, dass man mit dem Geschrei etwas kaputt macht.» «Bei mir hat es etwas kaputt gemacht», sagte Bigna. Ich dachte: Ja, bei mir auch. Aber noch verkniff ich mir die Tränen.

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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