Kindermund 21. Februar 2017, von Tim Krohn

Das tote Reh und der Trost im Sterben

Kindermund

«Wenn ich ein Reh wäre, werde ich lieber vom Wolf gefressen, als dass ich sterbe, weil ich krank bin», sagt die kleine Bigna.

Kolumne von Tim Krohn und Richard Reich

Seit Anfang 2017 schreiben in alternierender Reihenfolge die Autoren Tim Krohn zum Thema «Kindermund» und Richard Reich zum Thema «Schöpfungen».

Als ich gestern ein paar Schritte ging, hörte ich Bigna von unten vom Bach her rufen. Ich wusste gleich, warum. Zwei Tage zuvor hatte ich dort ein totes Reh liegen sehen. Ich hatte vor, den Wildhüter anzurufen, doch als ich heimkam, brannte meiner Frau das Öl in der Pfanne, und darüber ging das Reh vergessen.

«Da liegt ein Tier mit einem Loch», rief Bigna, als ich zu ihr hinabstieg. Vor Aufregung oder Ungeduld hüpfte sie beidbeinig auf und ab. «Ich weiss, ein Reh», sagte ich. «Aber warum hat es ein Loch?», fragte sie. Das Reh lag da, als schlafe es, halb eingerollt, den Kopf zwischen den Vorderläufen. Im Nacken oder etwas tiefer, unterhalb der Schulterblätter, hatte es ein kraterförmiges Loch, und die inneren Organe fehlten. Offenbar hatte etwas an ihm genagt.

«Vielleicht hat es der junge Wolf gerissen, den sie auf der Passhöhe gesichtet haben», riet ich. Dagegen sprach, dass kaum Blut zu sehen war. Das fiel auf der dürren Wiese kaum auf, doch zwei Tage zuvor hatte noch Schnee gelegen, und ich hatte weiter oben am Hang immer wieder Haarbüschel gefunden und auch einzelne Blutflecken, aber nirgends eine Lache oder Kampfspuren. «Vielleicht ist es auch erfroren, oder es war krank», sagte ich. «Das wäre aber traurig», sagte Bigna. «Trauriger, als wenn der Wolf es reisst?», fragte ich. Bigna nickte. «Es ist doch ein Reh», erklärte sie. «Rehe werden nun mal gefressen. Wenn ich ein Reh wäre, werde ich lieber vom Wolf gefressen, als dass ich sterbe, weil ich krank bin.» – «Aber traurig ist beides», sagte ich nochmals.

Bigna sah mich an, als hätte sie mir mehr Grips zugetraut. «Wenn Mama am Abend aus der Weberei kommt, stöhnt sie auch, weil ihr alles weh tut. Aber zufrieden ist sie doch.» – «Du meinst, das Reh stirbt zufrieden, weil es Futter für den Wolf sein darf?», fragte ich nach. Aber Bigna hörte nicht mehr zu. Sie beugte sich vor, um das Tier zu untersuchen.

«Nicht anfassen», bat ich. Also richtete sie sich wieder auf, nahm meine Hand und betrachtete das Reh. Dann zuckte sie mit den Schultern und sagte: «Aus die Maus. Was machen wir jetzt?» – «Ich gehe heim und rufe den Wildhüter an», sagte ich. «Wozu?», fragte sie. – «Damit er das Reh holt und verbrennen lässt.» – «Verbrennen? Wieso kann er es nicht liegenlassen?», fragte sie betrübt. «Vielleicht isst es der Wolf ja noch auf.» – «Es kann auch ein tollwütiger Hund gewesen sein», sagte ich. «Das wäre gefährlich.» Bigna seufzte, dann sagte sie: «Wenn mich etwas fressen würde, hätte ich aber lieber, dass es aufisst.»

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