Kindermund 21. Februar 2017, von Tim Krohn

Liebenswerte Polizei oder Kampf der Fliehkraft

Kindermund

Bigna wird Polizeiassistentin und beruhigt eine geschockte Frau mit einer Orange; Bigna schält sie in Blütenform.

Seit sie Verkehrserziehung hatte, bleibt Bigna vor jedem Weglein stehen und ruft: «Spetter, tschütter, taicler, ilura posch ir.» Auf der Hauptstrasse kann es so fünf Minuten dauern, bis sie die Strassenseite endlich wechseln kann, denn hört sie auch nur ganz von fern ein Auto, bricht sie ab, wartet, bis es vorbei ist, und fängt dann nochmals an. Einmal verlor ich die Geduld und stoppte den Verkehr, aber da schimpfte Bigna furchtbar und erklärte: «Du brauchst das Sprüchlein nicht zu rufen, aber denken musst du es, und nie, nie, nie darfst du einfach loslaufen.»

Ich nannte sie «Frau Oberpolizeiwachtmeister», das hörte sie nicht gern. Gestern allerdings, nachdem sie mit ihrer Gross­mutter am Ofenpass in einen Autounfall geraten war, beschloss sie tatsächlich, Polizistin zu werden. Ein Paar aus Zürich war so naiv gewesen, mit Allwetterpneus den Pass befahren zu wollen, war auf der Schneedecke ins Rutschen geraten und hatte den Wagen der Nona gerammt.

Unsere Polizisten – die wir duzen, wie sich fast alle im Tal duzen – haben oft allein Dienst, an diesem Tag René. Kurzerhand ernannte er Bigna und die Nona zu Assistentinnen. Die Nona erhielt eine Leuchtweste und regelte den Verkehr, Bigna malte er mit Kreide drei Dächlein und einen Stern auf die Schulter, wie er sie selbst auf der Patte trug. Die Dächlein bedeuteten: «Kann lesen – kann schreiben – kann lesen und schreiben», das Sternlein: «Traut sich nachts raus.»

Während René mit dem Zürcher den Schaden begutachtete, durfte Bigna dessen Frau die Hand halten. Die sass am Strassenrand und hatte vermutlich einen Schock. Schlimmes war nicht passiert, doch seit René lakonisch bemerkt hatte: «Ein Glück, schneit es schon länger, sonst wären Sie nicht in die Schneemauer gesaust, sondern ziemlich weit das Loch hinab», heulte sie. Um die Frau auf andere Gedanken zu bringen, erzählte Bigna, wie im Sommer die Motorräder wüten und wie weit die jeweils fliegen. Aber die Frau beruhigte sich erst, als René eine Orange brachte und Bigna ihr vorführte, wie man sie so schält, dass die Schale eine Blume wird.

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 schreibt Tim Krohn die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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