Gestern suchte ich meine Lesebrille, zuerst in den Jackentaschen, dann im Gras. Bigna sah mir dabei zu. Ich ging ins Haus, aber dort fand ich die Brille auch nicht. Als ich zurückkam, sass Bigna an meinem Computer und spielte mit der Tastatur. «Ich wollte dir die Schrift grösser machen», behauptete sie, als ich sie verscheuchte. «Wenn meine Mama etwas nicht lesen kann, macht sie die Schrift grösser.» – «Ich habe ja noch gar nicht angefangen zu schreiben», sagte ich. «Da kann man auch nichts grösser machen. Ich brauche die Brille, sonst kann ich mich nicht konzentrieren.» – «Wozu ist denn die Brille, die du auf dem Kopf hast?», fragte Bigna. Es war meine Lesebrille, und nachdem ich mich bedankt hatte, verabschiedete ich mich und versuchte, einen Anfang zu finden.
«Wieso schreibst du denn jetzt nicht?», fragte Bigna nach einer Weile. «Ist es doch die falsche Brille? Vielleicht brauchst du eine stärkere. Mama sagt immer: ‹Wenn es so weitergeht, werde ich noch blind.› Vielleicht wirst du blind.» Ich dachte an meine Mutter, die tatsächlich altersblind war, und sagte: «So alt bin ich noch nicht. Und bis ich so alt bin, muss ich noch eine Menge schreiben.» – «Warum?», fragte Bigna. – «Um Geld zu verdienen», sagte ich. «Ausserdem macht es mir Freude. Auch wenn es nicht immer so aussieht.»
«Wenn du blind bist, brauchst du kein Geld mehr?», forschte Bigna weiter. – «Dann bekomme ich Geld fürs Blindsein», erklärte ich ihr. – «Und dann schreibst du nicht mehr?», bohrte sie nach. – «Ich weiss es nicht», sagte ich ehrlich. «Im Alter geht der Blick nach innen. Deshalb ist es auch ganz in Ordnung, wenn man nichts mehr sieht. Ich weiss nicht, ob man dann noch etwas zu erzählen hat.» – «Wieso, dann kann man doch erzählen, was man innen sieht.» – «Ich glaube ja, innen ist nichts», sagte ich. «Das Innere des Menschen ist weit und leer. Auf schöne Weise leer.» – «Dunkel?» – «Nein, hell», behauptete ich.
Darüber dachte Bigna nach, während ich endlich die ersten Zeilen meines Textes schrieb. Sie wartete, bis ich absetzte, ehe sie feststellte: «Dann ist Innen aber schöner als aussen. Aussen ist immer alles so voll, und dunkel auch oft.» – «Ja», sagte ich nur, denn in Gedanken formulierte ich bereits den nächsten Satz. – «Aber wozu haben wir dann Augen?», fragte Bigna fast gereizt. Ich hatte keine Zeit zu antworten, denn nun überschlugen sich meine Gedanken. Ich sah erst auf, als Bigna rief: «Ach so, jetzt weiss ich: Das Beste kommt zuletzt. Wie beim Nachtisch.»