Die Evangelisch-Reformierte Kirche Schweiz (EKS) schreibt zur Covid-19-Impfung: «Es gibt aus kirchlicher Sicht plausible ethische Gründe, die Impfung zu empfehlen.» Persönliche Impfrisiken seien akzeptabel, «weil damit weitaus grössere Risiken für andere abgewendet werden können». Die EKS beruft sich in ihrem diakonischen und politisch-ethischen Engagement auf das biblische Solidaritätsethos.
Überzeugen statt erzwingen
Die Impfdebatte spitzt sich zu. Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz empfiehlt die Impfung und lehnt Privilegien ab. Eine fehlende Impfung dürfe nicht zum Ausschluss führen.
Moralische Solidaritätspflicht
Doch wie steht es mit den Impfgegnern und ihrer Freiheit? Frank Mathwig, Beauftragter für Theologie und Ethik, betont, dass die Schweiz keinen Impfzwang kennt. Aber es gibt eine «moralische Solidaritätspflicht» gegenüber Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen dürfen und deshalb schutzlos der Pandemie ausgesetzt sind. «Ihnen gegenüber haben jene, die sich impfen lassen können, eine besondere Verantwortung.»
Dasselbe gelte für die Kapazität der Spitäler. «Wenn Personen, die eine Impfung verweigern, die begrenzten Intensivbetten aufgrund des schweren Infektion in Anspruch nehmen, riskieren sie unter Umständen die Gesundheit oder das Leben anderer Menschen.»
Selbsttest zwanglos anbieten
Inzwischen hat die EU die Einführung eines Corona-Impfpasses beschlossen. Im Juni sollte es soweit sein. Auf dem Ausweis werden Impfungen, aber auch Corona-Erkrankungen und negative Tests vermerkt, so dass man seine Immunität beweisen kann. Die Schweiz wird sich voraussichtlich diesem System anschliessen müssen. Die EKS weist eine kategorische Ungleichbehandlung zurück: «Eine Impfbescheinigung darf weder gefordert werden noch ihr Fehlen ein Ausschlusskriterium sein.» Die EKS empfiehlt, die Testbereitschaft zu fördern und Selbsttests vor Veranstaltungen zwanglos anzubieten.
Lässt sich dieses kirchliche Selbstverständnis auf den Staat übertragen? «Nein», sagt Frank Mathwig, «doch die Forderung dahinter schon». Im Vergleich zu anderen Ländern war der Bundesrat in der zweiten Pandemiewelle bei den Massnahmen sehr zurückhaltend. Es gab keine Ausgangsverbote, Sperrstunden oder nationale Schulschliessungen. «Diese Haltung wird die Impfpolitik bestimmen», sagt der Ethiker und räumt ein: «Privatunternehmen wie Kultur- und Sportbetriebe haben freilich die Möglichkeit, Impfnachweise vertraglich einzufordern, dasselbe gilt für Flugreisen ins Ausland.»
Entscheidend sei, dass eine fehlende Impfbescheinigung niemanden vom Zugang zu öffentlichen Orten und Institutionen ausschliessen dürfe. «Auch Menschen ohne Impfbescheinigung müssen zu allen lebensrelevanten Gütern und Orten Zugang haben.»
Ein langer Prozess
Mathwig bezeichnet die Privilegien-Diskussion als «gefährlichen Irrtum in der Debatte». Die Frage, ob geimpfte Personen Privilegien erhalten sollen, sei falsch gestellt. «Es geht nicht um Privilegien, sondern um die Grundrechte, die während der Pandemie eingeschränkt wurden. Zentral ist vielmehr die Frage, ob Freiheitsbeschränkungen bei geimpften Personen noch verhältnismässig sind.
Einschränkungen von Grundrechten müssen dem Schutz aller dienen, zeitlich begrenzt und verhältnismässig sein», sagt der Ethiker. «Wenn von geimpften Personen nachweislich keine Ansteckungsgefahr für Dritte ausgeht, wären die Freiheitsbeschränkungen nicht mehr angemessen.» Die Gesellschaft stehe vor einem langen Prozess: «Sie muss lernen, mit dem Virus umzugehen. Kategorische Antworten gibt es nicht. Das ist die wirklich grosse Herausforderung, bei der auch die Politik noch am Anfang steht.»