Wie «systemrelevant» ist bildende Kunst?
Christian Saehrendt: In der Corona-Krise wurde besonders deutlich, dass das Interesse an Kunst in der Bevölkerung relativ gering ist und aus dem Kulturbereich nur schwacher Widerstand gegen die Schliessungsanordnungen gekommen ist. Das liegt daran, dass nur wenige Prozent der Bevölkerung regelmässig Ausstellungen und Theateraufführungen besuchen – soziologische Studien haben dies ergeben.
Also eine eher elitäre Angelegenheit?
Das muss nicht sein. Man sollte grundsätzlich auch Angebote für möglichst weite Bevölkerungskreise machen, um ihnen die Welt der Kunst zu öffnen, die geistige Anregungen und Freude machen kann. Auch ich versuche mit meinen Publikationen (s. Infobox unten) die Berührungsangst vor moderner Kunst abzubauen: Kunst ist nicht nur etwas für Spinner und Superreiche, sondern eigentlich für jeden. Es kommt darauf an, was man daraus macht.
Kleinkünstler können derzeit nicht mehr auftreten, weil die Bühnenlokale geschlossen sind. Bildende Künstler arbeiten dagegen im Atelier. Weshalb leiden auch sie unter dem Shutdown?
Für Menschen mit Bühnenpräsenz kommt das Veranstaltungsverbot einem Berufsverbot gleich. Die bildende Kunst ist indirekt betroffen, aber auch sie braucht die Öffentlichkeit. Viele Künstler und Künstlerinnen sind «Ateliertiere». Eigenbrötler, die aber auch monatelang auf den grossen Tag der Vernissage oder Ausstellung hinarbeiten, wo das Kunstwerk das Licht der Welt erblickt. Fehlt der soziale Austausch bei der Vernissage, fehlt die gesellschaftliche Anerkennung, kann das demotivieren und deprimieren.
Museen dürfen am 1. März wieder öffnen. Hätten diese Institutionen während des Shutdowns im Winter nicht offen bleiben können?
Die Voraussetzungen wären günstig gewesen. Ein Openair-Konzert mit Tausenden Besuchern ist etwas ganz anderes als ein Museum. Gehen Sie mal ins Kunstmuseum Bern oder Thun. Da sind Sie auch in normalen Zeiten manchmal fast der Einzige. Es gibt kaum eine Institution, die Besucherströme besser kanalisieren kann.
Wirkt sich die allgemeine Corona-Müdigkeit und die gereizte Stimmung in Teilen der Bevölkerung auf die Produktivität bildender Künstlerinnen und Künstler aus?
Künstler und Künstlerinnen sind oftmals besonders sensibel für gesellschaftliche Entwicklungen. In persönlichen Gesprächen habe ich festgestellt, dass viele Angst haben, dass sich die Schweiz und die anderen europäischen Staaten im Kontext der Pandemiemassnahmen in autoritäre Systeme verwandeln. Auch bei der derzeitigen Covid-Impfkampagne mit übereilt zugelassenen Impfstoffen, deren langfristige Wirkungen völlig unbekannt sind, wird vielen angst und bange.
Man hört aus diesen Kreisen wenig von solchen Ängsten.
Die Betroffenen getrauen sich nicht mehr, ihre Bedenken öffentlich zu äussern, weil sie Diffamierung durch Behörden, Medien und Social Media fürchten. Auch in der Kunstszene zerstören die Pandemiemassnahmen Freundeskreise und vergiften die Atmosphäre.
Kennen Sie Künstlerinnen und Künstler, die die Pandemie in ihrem Schaffen explizit aufnehmen und verarbeiten?
Hier habe ich noch nicht viel Produktives gesehen. Finanzielle Probleme, Isolation und Depression hemmen die künstlerische Tätigkeit derzeit allgemein. Die meisten versuchen eher, ihre eigenen Ideen und Projekte weiterzuentwickeln – trotz der Krise. Das ist ja anspruchsvoll genug unter diesen Umständen. Schriftsteller und Autorinnen waren in dem Sinne produktiver. Sie nutzten bereits den ersten Lockdown im Frühjahr 2020 zum Schreiben, diese Bücher sind jetzt auf dem Markt.
Besteht die Gefahr, dass hoffnungsvolle Nachwuchstalente aufgeben, weil sie im Moment keine Absatzmöglichkeiten sehen?
Vielen fehlt in der Corona-Krise die Chance, bekannt zu werden, auszustellen, Sammler und Galeristen zu finden. Einen hoch angesehenen Künstler betrifft die verordnete Schliessung weniger. Er braucht die Öffentlichkeit nicht so dringend, weil er schon im Markt etabliert ist. Nobelgalerien mit Listen von Stammkunden sowie Auktionshäuser mit Online-Versteigerungen können die Durststrecke überwinden. Doch die unbekannte Künstlerin oder der regionale Galerist, die ein neues Publikum erreichen wollen, sind auf offene Türen, Veranstaltungen und Laufkundschaft angewiesen. Der Shutdown hat die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft wie auch im Kunstmarkt verstärkt.
Gab es früher schon ähnliche Situationen der Isolation und Ungewissheit, die sich auf die bildende Kunst ausgewirkt haben? Krieg, die Pest, Hungersnöte?
Sicher. In Krisen- und Kriegszeiten zählten Künstler und Künstlerinnen oftmals zu den ersten Opfern. Zuletzt konnte man das beispielsweise im Irak in den Jahren zwischen 2003 und 2011 sehr deutlich beobachten. Die einstmals reiche Kunstszene in Bagdad geriet zwischen die Fronten. Es gab Morde und Entführungen. Die meisten Galerien mussten schliessen, viele Künstler ins Exil flüchten. Die Corona-Situation in der Schweiz ist mit Bürgerkrieg oder Pest natürlich nicht im Mindesten vergleichbar. Wir alle müssen aber aufpassen, dass sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kollateralschäden der Pandemiebekämpfung nicht zu einer echten Krise auswachsen.