Sie sind Zukunftsforscher. Haben Sie die Katastrophe durch den Corona-Virus erwartet?
Andreas M. Walker: Niemand konnte voraussehen, dass 2020 der Corona-Virus ausbricht und die Folgen so fatal sein werden. Andererseits setzen sich die Krisenstäbe und Zukunftsforscher seit 15 Jahren mit dem Ausbruch einer Pandemie auseinander. Regelmässig gab es Führungsübungen. 2006 und 2007 hatten wir die Asiatische Vogelgrippe, später die Mexikanische Schweinegrippe. Seit 15 Jahren gehöre ich zu den Warnern. Wir wurden als kalte Krieger verspottet, die den Viren als neuem Feindbild hinterherjagen. Doch dass der Corona-Virus jetzt kommt, uns so lange beschäftigt und wir so hilflos sind, erstaunt auch mich.
Ist die rasche Ausbreitung der Krankheit eine Folge der Globalisierung?
Ja. Es gab praktisch keine Grenzen mehr, der freie Personen- und Warenverkehr öffnet Tür und Tor. Zur gesellschaftlichen Krise haben andere Megatrends beigetragen, etwa unsere grosse Gewichtung des Gesundheitswesens. Die Gesundheit ist in Meinungsumfragen regelmässig der wichtigste Wert. Dazu kommt unsere Null-Risiko-Gesellschaft, die extreme Massnahmen ergreift, um Ansteckungen zu verhindern.
Werden wir in Zukunft öfters mit solchen Pandemien rechnen müssen?
Leider ja. Die meisten dieser neuen Epidemien wie COVID-19 sind ursprünglich Tierkrankheiten, die auf den Menschen überspringen. Auch AIDS stammt letztlich vom Affen her. Solche Übertragungen wird es auch in Zukunft geben. Ob die nächste Pandemie in zehn oder 15 Jahren ausbricht, wissen wir nicht.
Aufgrund des Corona-Virus wurden die Grenzen geschlossen. Was bedeutet dies für die Globalisierung?
Das ist momentan die grosse Frage: Erleben wir das Ende der Globalisierung und ein Revival der Nationalstaaten? Dazu gibt es zwei Thesen. Die eine ist das V-Szenario: Die Gesellschaft ist tief gefallen, aber nach wenigen Monaten werden die Leute unbeeindruckt weitermachen und das nachholen, was sie in der Krise verpasst haben. Die andere lautet: Die Idee der neoliberalen Wirtschaft, die alles löst, ist am Scheitern. Der Staat und die Politik müssen und wollen künftig vermehrt eingreifen. Und wir erleben im Moment die Rückkehr des nationalstaatlichen Denkens und der Grenzen.
Geschlossene Grenzen bedeuten das Ende des Reisens und der Mobilität. Werden wir künftig weniger in der Welt herumfliegen?
Das Fliegen wurde in den letzten Jahren spottbillig. In den Neunzigerjahren kostete ein Flug tausend Franken. Heute können unsere Kinder schon mit ihrem Taschengeld nach London fliegen. Das ist natürlich sehr attraktiv. Für mich hängt die Zukunft des Reisens aber weniger vom Preis ab, sondern von der Frage der Sicherheit und der Hygiene. Nach «9/11» nahmen die Sicherheitskontrollen enorm zu. Das Fliegen wurde komplizierter, aufwändiger, riskanter und unattraktiver. Durch die Corona-Krise könnte sich dies verstärken.
Findet bei den Menschen kein Umdenken statt, so dass sie verstehen, wie sehr uneingeschränkte Reisen die Umwelt, das Klima und letztlich die Menschen gefährden?
Wir leben in einer multikulturellen und pluralistischen Gesellschaft mit entsprechend verschiedenen Werten. Ich glaube, in Zukunft wird sich unsere Gesellschaft noch stärker spalten. Die einen werden die verlorene Zeit möglichst rasch kompensieren und die Wirtschaft hochfahren. Für das andere Lager, und dazu gehören viele Christen, Grüne und Esoteriker, ist es jetzt genug, und sie versuchen, andere Werte in die mediale und politische Diskussion einzubringen. Dass dieses Lager Mehrheiten gewinnt, bezweifle ich. Aber es wird zu grossen Auseinandersetzungen führen.
Und da ist die Politik gefragt.
Richtig. Zurzeit erleben wir, wie ein starker Staat in der Corona-Krise seine Macht gegenüber der Wirtschaft zurückgewinnt und diese durchsetzt. Und die Bevölkerung akzeptiert dies. Ich rechne damit, dass der Staat auch künftig ein Machtwort sprechen wird, etwa bei der Klimafrage.
Wird sich die Wirtschaft nach dem Lockdown erholen?
Einzelne Unternehmen unbedingt. Es gibt jedoch viele kleinere, denen die Rücklagen fehlen. Diese werden Konkurs gehen. Die Beiträge und Kredite des Bundes sind gut gemeint, aber sie reichen nicht. Wie der Sozialstaat mit dieser Krise umgeht, ist offen. Im Moment investieren wir enorme staatliche Beiträge, um die Situation zu retten. Dieses Geld wird in den nächsten fünf Jahren in der Wirtschaftsförderung fehlen, sei es als Beiträge an Kulturschaffende, an die Bauindustrie und andere Branchen. Das führt zu Verteilungskämpfen. Denn dieses Geld wird auch für Sicherheit, Altersvorsorge und Umweltschutz fehlen.
COVID-19 beeinflusste auch den Handel: Nachdem die Grenzen geschlossen waren, entdeckte man die heimische Produktion und den lokalen Bauern. Wird dieser Trend anhalten?
Im Moment verlieren viele ihr Vermögen, ihr Einkommen und damit die Kaufkraft. Diese Leute können sich die teureren regionalen Produkte nicht leisten. Auf der anderen Seite gibt es jene, die keine finanzielle Einbusse erleben. Sie können einheimische Produkte kaufen und werden dies vermehrt tun. Wie wir einkaufen, ist primär eine Frage der Kaufkraft.
Befürchten Sie eine Spaltung der Gesellschaft? Die einen sind auf der sicheren Seite, während andere ins finanzielle Elend rutschen.
Dieses Thema wurde bis jetzt kaum diskutiert. Rentner, Staatsangestellte, viele Mitarbeitende im Spitalwesen und andere Branchen werden aus der Krise relativ ungeschoren davonkommen, während Gastronomen, Hoteliers, Künstler, Weiterbildung oder die Event- und Freizeitbranche über Wochen und Monate keinen Umsatz mehr machen werden. Sie erleiden massive Einbussen.
Die Corona-Krise ist ein Belastungstest für die Solidarität. Hat ihn die Schweiz bestanden?
Noch nicht.
Warum?
Ich werde jetzt provokativ: Im Moment ist die werktätige Bevölkerung mit den Senioren solidarisch und bleibt grossteils zu Hause. Unsere Moral schützt und ehrt die älteren Menschen. Das ist richtig. Ich sehe jedoch noch nicht, wo die Rentner mit all den Vätern und Müttern solidarisch sind, die jetzt die Grundlage ihrer Existenz verlieren. Ich hoffe, dass wir bei der Rezession erleben werden, dass dann die Solidarität auch umgekehrt spielen wird. Es wird dann die Solidarität der Pensionierten brauchen, etwa indem sie gezielt beim lokalen Gewerbe einkaufen, zinslose Darlehen an Kleinunternehmer vergeben oder einen Teil ihrer Rente für einen Rezessions-Fonds freigeben. Solidarität spielt immer auf beide Seiten. Ich weiss, solche Aussagen sind provokativ und für Politiker das Ende ihrer Karriere. Aber ich bin nicht Politiker und als Querdenker muss ich solche Provokationen aussprechen.
In der Corona-Krise treten plötzlich alte Werte wie Häuslichkeit, Nachbarschaft, Freundschaft und Beziehungen in den Vordergrund. Auch die Familie wird neu entdeckt, wenn der Sohn oder die Tochter für die betagte Mutter einkaufen geht.
Ja, wir entdecken den Wert der echten Beziehung und des echten Gesprächs. Wir vermissen unsere Freunde und Verwandten, weil wir sie nicht treffen dürfen. Oder die Leute im Gottesdienst, im Hauskreis, im Tennisclub und anderswo. Diese Erfahrung des Verlustes zeigt uns, was Beziehungen wert sind. In diesen Zusammenhang gehört auch die Auseinandersetzung um Wahrhaftigkeit. Im Moment kursieren viele Fake News, Verschwörungstheorien und Meinungen, so dass das Bedürfnis nach echten und wahren Inhalten zunimmt.
In den letzten vier Wochen haben viele Betriebe auf Home-Office umgestellt. Kommt jetzt die Heimarbeit wie vor hundert Jahren?
Die Schutzbehauptung vieler Vorgesetzter, Home-Office funktioniere nicht, ist widerlegt. Home-Office funktioniert. Es wird sicher da und dort ein Revival der Heimarbeit geben. Gleichzeitig zeigen sich jetzt ihre Grenzen: Schon nach kurzer Zeit suchen die Leute den sozialen Kontakt. Und der Küchentisch in der Genossenschaftswohnung ist auch nicht für Home-Office ausgelegt. Zudem erleben wir, wie schwierig es ist, wenn Ehepaare, Eltern und Kinder den ganzen Tag aufeinandersitzen. Das macht uns etwas hilflos.
Vorher konnte man sich ausweichen. Im Zeitalter des verdichteten Bauens fehlen heute die Gärten und Grünflächen, in denen man verweilen könnte. Wird die Corona-Zeit unsere Architektur und Städteplanung beeinflussen?
Kaum. Der weltweite Druck zur Verstädterung wird sich nicht aufhalten lassen. Das zeigen die Megacitys wie Honkong und London. Jene, die es sich leisten können, besitzen ihre Häuser mit Gärten und Ferienwohnungen. Das ist eine Frage des Einkommens.
Zu einem anderen Thema: Die Kirche erlebt in diesen Tagen die grösste Veränderung seit der Erfindung des Buchdrucks. Der Sonntagsgottesdienst wurde digital. Unzählige Pfarrerinnen und Pfarrer predigen im Web und verzeichnen grosse Beachtung.
Wenn die Predigt als Verkündigung den genetischen Code der christlichen Kirchen darstellt, dann erleben wir jetzt einen Charakterbruch. Denn jeder hat gemerkt, dass für die Predigt ein Laptop mit Kamera und ein Youtube-Kanal reichen. Für die Verkündigung des Wortes braucht es keine Kanzel mehr. Die digitale Kanzel löst die hölzerne ab. Das sage ich seit 15 Jahren und habe mir damit keine Freunde gemacht.
Das betrifft besonders die reformierte Kirche, die am Sonntag auf das Wort des Pfarrers und der Pfarrerin setzt.
Ja. Im katholischen Gottesdienst stehen Rituale, der Gesang und die Liturgie im Vordergrund. In der Freikirche sind es das Zusammenkommen, die Gemeinschaft und der soziale Kontakt. Die beiden Aspekte kann man nicht digital ersetzen. Die reformierte Vorstellung, dass der sonntägliche Gottesdienst das Zentrum der Kirchgemeinde bildet, wurde jetzt durch die digitalen Auftritte teils in Frage gestellt. Die Reformierten müssen sich jetzt verstärkt hinterfragen, was ihre Feiern auch ausmachen: Die sozialdiakonische Arbeit, die Seelsorge, das Erlebnis der Gemeinschaft?
In welche Richtung sollten die Reformierten gehen?
Solche Überlegungen gab es in der evangelischen Kirche schon vor der Corona-Krise. Viele Kirchenpflegen, Pfarrer und Pfarrerinnen machten sich Gedanken darüber, dass am Sonntag kaum mehr als dreissig Gottesdienstbesucher in den Bänken sitzen. Viele Kirchgemeinden beschäftigen sich seit längerem mit der Frage: über was definieren wir uns? Über die Jugend- oder Altersarbeit, die Diakonie oder die Hauskreise?
Zu den digitalen Feiern: Gibt es eine Kirche ohne physische Gemeinschaft?
Wenn ich die biblischen Geschichten und die Kirchengeschichte betrachte, dann gehören echte Beziehungen zum genetischen Code des christlichen Glaubens. Man teilt das Leben, die Freuden und das Leid, feiert zusammen und trauert, tröstet und ermutigt sich. Die Bibel ist voller echter Menschen und echten Beziehungen. Deshalb braucht auch die Kirche neben aller Verkündigung, all ihren Predigten, ihrer Erweckungsliteratur oder dem Bibel-TV echte Beziehungen mit echten Menschen.
Zum Schluss: Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus der Corona-Krise?
Es ist schwierig, schon jetzt ein Fazit zu ziehen, denn die Krise ist nicht ausgestanden. Eindrücklich ist das Comeback der Politik und des Staates, der die Zügel in die Hand genommen hat. Es sind nicht mehr die Märkte, die den Kurs diktieren. Und eindrücklich ist auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung und die Solidarität. Das zeugt von der Qualität der Schweizer Gesellschaft.