Auf einer Intensivstation: Ein 90-jähriger Patient hängt am Beatmungsgerät, die Überlebensaussichten sind gering, aber vorhanden. Nun wird neu eine 50-jährige Patientin eingeliefert, die zum Überleben genau dieses Beatmungsgerät bräuchte, weil keine anderen Möglichkeiten bestehen – und ihre Überlebenschancen sind deutlich höher als jene des älteren Mannes. Wie soll das medizinische Personal entscheiden?
Ein fiktiver Fall, der während der Corona-Pandemie hätte real eintreffen können. Dafür hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) Richtlinien herausgegeben mit konkreten Empfehlungen zur «Triage von intensivmedizinischen Behandlungen bei Ressourcenknappheit». Die empfohlene Richtung in absoluten Notsituationen ist klar: Das Gerät würde für die jüngere Person eingesetzt.
Jurist ortet Diskriminierung
Nun kritisiert eine Untersuchung von Rechtswissenschaftlern der Uni Basel die Empfehlungen der SAMW fundamental. Als hauptsächlichen Mangel nennt der Mitautor und Rechtsprofessor Bijan Fateh-Moghadam, dass ältere Menschen und Patienten mit Vorerkrankungen diskriminiert würden. Die Empfehlungen seien daher «mit verfassungs- und strafrechtlichen Vorgaben unvereinbar».
Fateh-Moghadam hält in einem Interview auf der Newsseite der Uni Basel weiter fest, dass die SAMW mit den Covid-19-Richtlinien «bemerkenswert unsensibel» handle. Gar «schockierend» findet er, dass gemäss den Empfehlungen Menschen mit mittelschwerer Demenz in absoluten Notsituationen vom Zugang zur Intensivmedizin ausgeschlossen würden. Rechtlich gesehen müsse eine Triage «ohne Ansehen der Person», also nach Los oder Prioritätsprinzip (wer zuerst war, wird zuerst behandelt) erfolgen.
Ethiker sieht Realitätsbezug
Über eine solche Forderung schüttelt Markus Zimmermann den Kopf. «Das ist nicht zumutbar», sagt der Professor für Moraltheologie und Ethik an der Uni Freiburg und Vizepräsident der Nationalen Ethikkommission (NEK). Und hält im Gespräch mehrmals fest, er sei auch emotional bei dieser Sache. «Wenn ich als Arzt eine Person habe, die mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit überleben wird, wenn ich sie sofort behandle, und eine andere, bei der die Überlebenschance lediglich klein ist – und ich muss das Los entscheiden lassen, ist das schlicht nicht umsetzbar und ethisch unverantwortlich. Ich würde am nächsten Tag kündigen.»
Mit Blick auf die Kritik der Rechtswissenschaftler treiben den Theologen zwei Unbehagen um: «Erstens ist eine Triage, wie sie hier gefordert wird, nicht realisierbar.» Die Richtlinien seien schliesslich für eine absolute Knappheits- und Katastrophensituation erstellt worden. Jeder Mensch habe das gleiche Recht auf Behandlung: Das sei wichtig und auch in den Richtlinien festgehalten. Aber: «Es ist nicht verantwortlich, in einer absoluten Knappheitssituation von der Prognose abzusehen. Wenn ein Menschenleben mehr gerettet werden kann, muss man zugunsten dessen entscheiden», sagt Zimmermann.
Machbares ist nicht immer sinnvoll
Zweitens lasse die Einschätzung der Juristen ausser Acht, dass eine intensivmedizinische Behandlung auch indiziert, also aus ärztlicher Sicht sinnvoll sein muss. Oft haben diese gravierende Folgen – «und zwar nicht nur für die Patientinnen und Patienten, sondern unter Umständen auch für die Angehörigen». Viele hätten danach psychische Schwierigkeiten, Rehabilitationsmassnahmen sind meist unumgänglich. Nicht alles, was machbar sei, sei auch sinnvoll, betont Markus Zimmermann – namentlich bei Kranken in sehr hohem Alter oder mit einer starken Demenz.
Schliesslich wird für den Ethikprofessor auch mit Forderung der Juristen nach öffentlicher interdisziplinärer Diskussion der Richtlinien Wasser auf die Mühlen getragen. «Über Themen wie die Sinnlosigkeit von Behandlungen in der Intensivmedizin diskutieren wir in der Schweiz seit vielen Jahren. Richtlinien wie jene zur Intensivmedizin werden breit vernehmlasst.» Zwar blieben viele Punkte schwierig, Entscheidungen würden immer hochemotional sein. Aber Zimmermanns Einschätzung der kritisierten Empfehlungen ist eindeutig: «Die Richtlinien zur Triage bei Covid-19-Patienten in der Intensivmedizin halte ich für gut.»