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Wettrennen um ein Mittel gegen die Angst

Pandemie

Im Rennen um den Impfstoff gegen Corona seien etablierte Standards gefährdet, sagt Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle. Epidemiologe Marcel Tanner sieht die Ebola-Forschung als Vorbild.

22. September 2020

von Katharina Kilchenmann

Die Forschung an einem Impfstoff gegen Covid-19 läuft auf Hochtouren. In Labors rund um den Globus wird an etwa 400 Impfstoff-Kandidaten geforscht, einige werden bereits an Menschen getestet.

Was normalerweise zehn Jahre dauert, soll in nur wenigen Monaten möglich sein. Speed-Forschung nennt sich das. Und nicht nur das rasante Tempo der Wissenschaftler, auch die vereinfachte Zulassung von Wirkstoffen sowie Medikamenten wirft ethische Fragen auf. 

Angst vor Langzeitfolgen

So warnt die Theologin Ruth Baumann-Hölzle, Mitglied der Kantonalen Ethikkommission Zürich und bis 2013 der Nationalen Ethikkommission, vor Abkürzungen bei der Impfstoffentwicklung. «Bei einer zu frühen Zulassung eines neuartigen Impfstoffes ohne ausreichende Prüfung und Einhaltung der Sicherheitsstandards der internationalen Richtlinien habe ich grösste Bedenken, was Nebenwirkungen und vielleicht sogar irreversible Langzeitfolgen betrifft.» Derartige Risiken dürften mit Blick auf das Risikoprofil des grassierenden Coronavirus nicht eingegangen werden.

Die Ethikerin räumt ein, dass in der Schweiz die Hürden für eine Zulassung von Impfstoffen und Medikamenten hoch sind. Und das müsse auch so bleiben. «Es darf nicht sein, dass schlussendlich die Impfschäden grösser sind als der Schaden, den die Pandemie anrichtet.» 

Dass bei der Entwicklung eines Impfstoffs ein hohes Tempo angeschlagen wird, ist nicht neu. Darauf verweist der Epidemiologe Marcel Tanner, der nicht ausschliesst, dass es bis in einem Jahr einen Impfstoff gegen Covid-19 geben könnte. «Was bei der Bekämpfung von Ebola möglich war, könnte auch hier der Fall sein.» Die Erkenntnisse aus der Ebola-Forschung seien eine wichtige Grundlage, um zügig vorangehen zu können. «Und zwar ohne international geltende Wissenschaftsstandards zu umgehen», betont Tanner. Der emeritierte Professor für Epidemiologie an der Universität Basel ist Mitglied der Corona-Task-Force des Bundes.

Bestellen und fair verteilen

Getestet werden die Impfstoffe in Ländern mit hohen Infektionsraten: etwa in Peru, Südafrika oder Brasilien. Tanner betont, man gehe nur in Länder, die bei den Standards bezüglich Ethik und Wissenschaft keine Kompromisse machen. «Es werden keine Unterprivilegierten als Versuchskaninchen missbraucht. Wir testen dort, weil das gute Forschungsstandorte sind.» 

Peru beispielsweise habe schon etliche Seuchen bewältigt und sei, was die Infrastruktur für die Wissenschaft betreffe, bestens gerüstet. «Die Entwicklung von neuen Medikamenten und Impfstoffen ist stets eine Güterabwägung zwischen Nutzen und Risiken», sagt Tanner. «Ohne Risiken einzugehen, würden wir nie einen Impfstoff finden.»

Die Schweiz hat sich bereits Anfang August mehr als vier Millionen Impfstoffportionen gesichert. Gleichzeitig beteiligt sie sich an den Bestrebungen der Weltgesundheitsorganisation für eine faire Verteilung weltweit. Tanner betont, dass beides wichtig sei: Der Schutz der eigenen Bevölkerung genauso wie die Mitverantwortung bei einer gerechten Verteilung des Impfstoffs.

Neues Risiko neben anderen Risiken

Ruth Baumann-Hölzle ist überrascht, wie die Gesellschaften auf die Pandemie reagieren. «Seit Monaten orientieren wir uns am Notfallmodus, der das kurzfristige Überleben sichern soll.» Mittlerweile sei Covid-19 aber ein chronisches Phänomen und als ein neues Risiko neben anderen Risiken einzustufen. Die Ethikerin fordert eine vergleichende Auseinandersetzung sowie eine ethische Güterabwägung. «Wie auch anderswo in der Medizinethik sind Lebensqualität und Lebenserhaltung auf ihre Verhältnismässigkeit hin abzuwägen.»

Tanner erachtet einen wirksamen Schutz vor Covid-19 «mit keinen oder nur geringen, seltenen Nebenwirkungen» als dringend nötig: Ein Impfstoff könne dazu beitragen, die medizinischen, gesellschaftlichen und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie einzudämmen. «Und eine Impfung würde auch die Angst vor dem unberechenbaren Virus mindern.» 

Drei klinische Phasen

Von der Entwicklung bis zur Zulassung eines neuen Impfstoffes vergehen üblicherweise rund 8 bis 20 Jahre. Am Anfang stehen die Forschung und die sogenannte präklinische Phase. Darauf folgen die klinischen Phasen eins bis drei. Bei Probandengruppen von unter 100, mehreren 100 und mehreren 1000 Personen wird der Impfstoff auf Wirksamkeit und Sicherheit getestet. Laut der Website infovac.ch befinden sich weltweit bereits acht Impfstoffe gegen Covid-19 in der dritten und letzten Phase.    

Kommentare zu diesem Beitrag

Verena Thalmann

20. November 2020

Liebe Frau Kilchenmann Zwar mit etwas "Verspätung" aber um so herzlicher, möchte ich Ihnen für diesen Artikel danken! Frau Baumann-Hölzle spricht das an, was "Not tut".

Armin Brotschi

29. September 2020

Nun, ich unterstütze die Argumente von Frau Ruth Baumann-Hölzle. Nur in einer Langzeitstudie von 8-10 Jahre Dauer können Folgeschäden wirklich abgeschätzt werden. Nun die Politik & Wissenschaft reklamieren das Tempo dieser neuartigen mRNA -Impfung mit der Begründung, dass dem Coronavirus ausschliesslich mit einer Impfung beizukommen ist und nimmt damit weit reichende Risiken leichtfertig in Kauf. Ich würde es sehr begrüssen, wenn unserem Immunsystem, welches die Menschheit seit tausenden von Jahren durch unterschiedlichste Krisen getragen, hat mehr Beachtung geschenkt wird. Fakt ist, das 80% diesem C-Virus symptomlos oder mit leichten Krankheitszeichen trotzen können. In der Fachsprache nennt man dies Immunität oder Teilimmunität. Nebst Humor, Echinaforce oder Vitamin C gäbe es hier jedenfalls ein weites Feld für die Forschung. Nur so eine Idee… anstelle der täglichen nackten Fallzahlen, welche der Laie fälschlicherweise als Krank interpretiert, mal einen Monat lang tägliche Meldungen über die vielen aus der Quarantäne entlassenen positiv Getesteten. ps. im Abschnitt "Drei Klinische Phasen" hat sich womöglich ein Druckfehler eingeschlichen ... es sollte heissen 8 -10 Jahre nicht 20 Jahre freundliche Grüsse Armin Brotschi