Die Forschung an einem Impfstoff gegen Covid-19 läuft auf Hochtouren. In Labors rund um den Globus wird an etwa 400 Impfstoff-Kandidaten geforscht, einige werden bereits an Menschen getestet.
Was normalerweise zehn Jahre dauert, soll in nur wenigen Monaten möglich sein. Speed-Forschung nennt sich das. Und nicht nur das rasante Tempo der Wissenschaftler, auch die vereinfachte Zulassung von Wirkstoffen sowie Medikamenten wirft ethische Fragen auf.
Angst vor Langzeitfolgen
So warnt die Theologin Ruth Baumann-Hölzle, Mitglied der Kantonalen Ethikkommission Zürich und bis 2013 der Nationalen Ethikkommission, vor Abkürzungen bei der Impfstoffentwicklung. «Bei einer zu frühen Zulassung eines neuartigen Impfstoffes ohne ausreichende Prüfung und Einhaltung der Sicherheitsstandards der internationalen Richtlinien habe ich grösste Bedenken, was Nebenwirkungen und vielleicht sogar irreversible Langzeitfolgen betrifft.» Derartige Risiken dürften mit Blick auf das Risikoprofil des grassierenden Coronavirus nicht eingegangen werden.
Die Ethikerin räumt ein, dass in der Schweiz die Hürden für eine Zulassung von Impfstoffen und Medikamenten hoch sind. Und das müsse auch so bleiben. «Es darf nicht sein, dass schlussendlich die Impfschäden grösser sind als der Schaden, den die Pandemie anrichtet.»
Dass bei der Entwicklung eines Impfstoffs ein hohes Tempo angeschlagen wird, ist nicht neu. Darauf verweist der Epidemiologe Marcel Tanner, der nicht ausschliesst, dass es bis in einem Jahr einen Impfstoff gegen Covid-19 geben könnte. «Was bei der Bekämpfung von Ebola möglich war, könnte auch hier der Fall sein.» Die Erkenntnisse aus der Ebola-Forschung seien eine wichtige Grundlage, um zügig vorangehen zu können. «Und zwar ohne international geltende Wissenschaftsstandards zu umgehen», betont Tanner. Der emeritierte Professor für Epidemiologie an der Universität Basel ist Mitglied der Corona-Task-Force des Bundes.
Bestellen und fair verteilen
Getestet werden die Impfstoffe in Ländern mit hohen Infektionsraten: etwa in Peru, Südafrika oder Brasilien. Tanner betont, man gehe nur in Länder, die bei den Standards bezüglich Ethik und Wissenschaft keine Kompromisse machen. «Es werden keine Unterprivilegierten als Versuchskaninchen missbraucht. Wir testen dort, weil das gute Forschungsstandorte sind.»
Peru beispielsweise habe schon etliche Seuchen bewältigt und sei, was die Infrastruktur für die Wissenschaft betreffe, bestens gerüstet. «Die Entwicklung von neuen Medikamenten und Impfstoffen ist stets eine Güterabwägung zwischen Nutzen und Risiken», sagt Tanner. «Ohne Risiken einzugehen, würden wir nie einen Impfstoff finden.»
Die Schweiz hat sich bereits Anfang August mehr als vier Millionen Impfstoffportionen gesichert. Gleichzeitig beteiligt sie sich an den Bestrebungen der Weltgesundheitsorganisation für eine faire Verteilung weltweit. Tanner betont, dass beides wichtig sei: Der Schutz der eigenen Bevölkerung genauso wie die Mitverantwortung bei einer gerechten Verteilung des Impfstoffs.
Neues Risiko neben anderen Risiken
Ruth Baumann-Hölzle ist überrascht, wie die Gesellschaften auf die Pandemie reagieren. «Seit Monaten orientieren wir uns am Notfallmodus, der das kurzfristige Überleben sichern soll.» Mittlerweile sei Covid-19 aber ein chronisches Phänomen und als ein neues Risiko neben anderen Risiken einzustufen. Die Ethikerin fordert eine vergleichende Auseinandersetzung sowie eine ethische Güterabwägung. «Wie auch anderswo in der Medizinethik sind Lebensqualität und Lebenserhaltung auf ihre Verhältnismässigkeit hin abzuwägen.»
Tanner erachtet einen wirksamen Schutz vor Covid-19 «mit keinen oder nur geringen, seltenen Nebenwirkungen» als dringend nötig: Ein Impfstoff könne dazu beitragen, die medizinischen, gesellschaftlichen und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie einzudämmen. «Und eine Impfung würde auch die Angst vor dem unberechenbaren Virus mindern.»