Zurzeit erlebt die Welt die Corona-Pandemie: Erinnert Sie dies nicht an die biblischen Seuchen?
Hans-Peter Mathys: Doch, dort gibt es diese fünfte Seuche, die das Vieh trifft, aber es gibt auch noch andere Plagen, die den ganzen Lebensraum der Ägypter betreffen. Das Wort, das in der Erzählung für die fünfte Plage verwendet wird, gilt sowohl für Menschen wie für Tiere. Man weiss nicht, um welche Seuchen es sich dabei handelt, eine genaue medizinische Diagnose zu stellen, ist nicht möglich. Seuchen erscheinen oft zusammen mit Schwert und Hunger. Es gibt im AltenTestament die berühmte Dreiheit von Krieg, Hunger und Pest. Seuchen und Pest sind Katastrophen unter anderen, die zum Teil fast gleich wichtig sind. Der Krieg kann von einem Feind ausgehen. Die Seuche ist diejenige, die man am wenigsten gut erklären kann und darum am stärksten mit Gott in Verbindung bringt.
In der Bibel droht Gott David mit den Plagen, weil er das Volk gezählt hat (2. Samuel 24). Sind Seuchen nach alttestamentlicher Auffassung eine Strafe?
Sie werden als Strafe empfunden, allerdings kommt bei David das Wort Strafe in diesem Zusammenhang nicht vor. Gott sagt nicht zu ihm: Du hast gesündigt. Dies sagt David selber. Gott liess ihn aus den Plagen wählen, aus Krieg, Hungersnot und Pest. David entschied sich für die Pest, weil sie, wie gesagt, von Gott komme und er lieber in die Hand von Gott fallen wolle als in die der Menschen. Er sieht das als Strafe, die er wegen der Volkszählung erleiden muss, die er selber angeordnet hat. Die Bestrafung, die David und sein Volk erleiden, hat jedoch nicht das letzte Wort. Denn nachdem die Seuche vorüber ist, darf er einen Altar bauen und darauf Gott Opfer darbringen.
Hat sich da die Auffassung im Alten Testament geändert? Gerade, wenn man an Hiob denkt, der vorbildlich war und dennoch alles verlor.
Hiob kann im Zusammenhang mit dem Coronavirus schlecht herangezogen werden. Es gibt verschiedene Deutungen von Hiobs Leiden. Die einfachste Erklärung ist die, dass Gott mit Satan eine Wette abgeschlossen hat. Eine andere Erklärung: Am Schluss vom Buch Hiob gibt es Gottesreden, in denen viele Tiere auftauchen. In diesen Reden sagt Gott zu Hiob indirekt: Du leidest zwar, und deine Klage ist berechtigt, aber was bedeutet dein Leiden angesichts der viel wichtigeren Tatsache, dass die Welt nicht zusammenbricht und ins Chaos zurückfällt? Dies könnte man vielleicht auf die aktuelle Situation übertragen. Das Coronavirus ist schlimm, doch besteht die Gefahr, dass wir jetzt alles andere verdrängen. Zurzeit ist es für die Medien das einzige Thema, das interessiert. Aber wie geht es etwa in Syrien weiter? Wie geht es den Flüchtlingen an den Grenzen? All dies blenden wir jetzt aus. Sollten wir hier nicht wie im Hiob-Buch sagen: Wir erleben gerade Schlimmes, doch die Corona-Krise ist nicht das einzige Problem, das wir haben.