Recherche 07. Juli 2021, von Tilmann Zuber/Kirchenbote

Die Gefängniswelt stand Kopf

Seelsorge

In den Gefängnissen stellte die Pandemie den Alltag auf den Kopf, wie die Seelsorgerin Anita Kohler erzählt. Plötzlich wurden die Angestellten zur Bedrohung.

In der Corona-Pandemie habe sie eine umgekehrte Welt erlebt, erzählt die Gefängnisseelsorgerin Anita Kohler. Während man in normalen Zeiten jene hinter den Mauern wegschliesst, die man als gefährlich einstuft, war es im letzten Jahr anders. Plötzlich ging die Gefahr von denen aus, die ins Gefängnis kamen. «Die Angestellten und Besucher wurde durch das Virus zur potenziellen Bedrohung», sagt die Pfarrerin. «Das war komplett absurd.»

Über Monate ohne Besuch

Anita Kohler arbeitet seit 2017 als Gefängnisseelsorgerin im Untersuchungsgefängnis Solothurn und in der Justizvollzugsanstalt Deitingen. Neben Kohler ist ihr katholische Kollege Hugo Albisser für die Seelsorge in den Solothurner Haftanstalten zuständig. Anita Kohlers zweites Standbein ist die Gehörlosenseelsorge in der Nordwestschweiz. Zwischen den beiden Polen findet das Leben der Pfarrerin statt.

Faktisch kam die Quarantäne der Einzelhaft gleich.
Anita Kohler, Gefängnisseelsorgerin

Der Lockdown war für die Insassen besonders schwierig. Niemand wurde verlegt, Besuche wurden gestrichen. Jeder Ausgang, Urlaub, Arzt- und Gerichtstermine wurden wenn möglich eingeschränkt oder unterbunden. «Einzelne konnten ein halbes Jahr lang keinen Besuch mehr empfangen», erzählt Kohler. «Seit März 2020 konnten sie ihren Angehörigen nicht mehr die Hand geben, geschweige sie in den Arm nehmen.»

Besuchte ein Häftling den Zahnarzt, so musste er nach der Rückkehr für zehn Tage in die Quarantäne. In der Regel kam er in die Krankenzelle, in der es weder Fernseher noch Radio gab. Waren die Krankenzellen besetzt, musste man in die Arrestzelle. «Faktisch kam dies der Einzelhaft gleich», sagt Anita Kohler.

Ansteckungen unbedingt verhindern

Die Gefängnisdirektion nahm die Sicherheit sehr ernst, man wollte verhindern, dass das Corona-Virus ausbrach, wie dies in der Genfer Haftanstalt Champs-Dollon geschah.

Die Corona-Pandemie traf auch die religiösen Feiertage. Kaum jemand besuchte im Advent die Weihnachtsgeschichten aus verschiedenen Ländern, ebensowenig die Kinoabende oder andere kulturelle Anlässe. Die Weihnachtsfeiern wurden gestrichen, gleich wie die Osterfeier. Als kleinen Trost erhielten die Insassen ein süsses «Ostersäckli», mit einer schönen Karte und einem österlichen Gruss.

Gelebte Offenbarung

In dieser Zeit waren die Insassen froh, wenn sie jemanden zum Reden hatten. Sie stellten Fragen, die ihre ganze Unsicherheit ausdrückte. «Die Häftlinge haben nur begrenzt Zugang zu den Medien, gerade am Anfang der Pandemie konnten sie sich keine fundierte Meinung bilden», erzählt Anita Kohler. So stellten sie Fragen, die ansonsten in der Seelsorge kaum auftauchen. Etwa, ist Covid-19 die Strafe Gottes, ein Zeichen für den Weltuntergang oder des anbrechenden Armageddon?

«Wir erfuhren eine gelebte Offenbarung, das war sehr speziell». Mit Corona veränderte sich auch die Perspektive in den Gesprächen. Plötzlich spürte man die Unsicherheit und Angst bei allen, bei den Insassen und Angestellten. Und viele erlebten die Sicherheitsleute in diesen Tagen menschlicher. «Wie gesagt, die Corona- Pandemie stellte die Welt auf den Kopf, auch hier hinter den Mauern», sagt Anita Kohler.

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