Haben Sie Angst vor dem, was jetzt derzeit geschieht?
Daniel Hell: Um mich selber habe ich nur wenig Angst. Eher um die Menschen, die mir nahe stehen und körperlich schwach oder krank sind. Doch die Verunsicherung spüre ich auch, weil niemand sicher weiss, wie sich die Situation entwickelt.
Gerade deshalb verängstigt die momentane Lage viele Menschen.
Absolut. Die Angst dient ja auch dazu, eine Gefahr zu erkennen, und schnell zu reagieren. Sie macht uns physisch und psychisch bereit, uns zu schützen. Im Fall dieses Virus ist dies besonders schwierig, da wir den Gefahrengrad zunächst nicht richtig einschätzen konnten. Es fehlt uns in Europa, im Gegensatz zu asiatischen Ländern, die Erfahrung im Umgang mit derartigen Krankheiten. Erst jetzt realisieren wir die Auswirkungen, da wir das Mass an Ansteckungen, die Krankheitsverläufe und die Todesrate sehen. Wir erkennen nun die eigentliche Bedrohung, zu der auch die wirtschaftlichen Folgen gehören. Das kann schon Verunsicherung und Angst auslösen. Das konnte ich auch in meiner Praxis beobachten.
Wie haben Ihre Patientinnen und Patienten reagiert?
Bisher kaum mit Panik. Klar haben Angstpatienten früher oder stärker reagiert als der Durchschnitt. Doch ich glaube, die schrittweise Einführung der teilweise drastischen Massnahmen erlaubte es der Bevölkerung sich anzupassen. Sie verhinderte akute Überforderung und Panikreaktionen. Obwohl es wohl epidemiologisch nachteilig war, da wir wertvolle Zeit verloren haben, das Virus einzudämmen, war es gesamtgesellschaftlich eine gute Lösung. Heute finden die Einschränkungen grosse Zustimmung.
Die Gesellschaft wird derzeit einem enormen Stresstest unterzogen.
Sie scheint ihn überraschend gut zu meistern. Ich bin beeindruckt, mit welcher Ruhe, Umsicht und Solidarität die Bevölkerung, nicht nur in der Schweiz, auch in anderen Ländern, reagiert. Ich glaube, die Tatsache, dass es alle gleichermassen betrifft, gibt Trost. Das hemmt Wut und Aggression, was ein Chaos verhindert. Bisher scheint die gemeinsame Gefahr eher den Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern.
Abgesehen von Hamsterkäufen und gestohlenen Desinfektionsmitteln.
Natürlich reagieren einzelne Menschen egoistisch und panisch. Das ist ein bekanntes Phänomen, dass wir in grosser Angst die Scham verlieren. Doch jeder Mensch hat seine eigene Art mit der Angst umzugehen. Einige reagieren mit Rückzug oder Verharmlosung der Gefahr. Andere Leute mit verstärkter Kontrolle, narzisstischem Verhalten oder mit paranoiden Verschwörungstheorien. Doch letztlich geht es einfach darum, dass wir als Gesellschaft die Krise meistern.