500 neue Sekten sollen in Frankreich seit Beginn der Corona-Pandemie entstanden sein. In Deutschland spalten nicht wenige Yoga-Lehrerinnen und -Lehrer die Szene, indem sie Verschwörungsideologien und rechtsextremen Mythen verbreiten. Und eine kürzlich publizierte Studie der Uni Basel zeigt, dass gegen 30 Prozent der Menschen (befragt wurden 1600 Personen in der Schweiz und in Deutschland) Aussagen rund um die Corona-Pandemie zustimmen, die eine Verschwörungserzählung als Hintergrund haben.
Georg Otto Schmid von der evangelischen Beratungsstelle Relinfo bestätigt auf Anfrage einige Aussagen von Medienberichten. Und er relativiert teilweise. In der Schweiz lägen konkrete Zahlen zu den Auswirkungen der Corona-Krise auf die Zahl der Gemeinschaften und auf die Anzahl Mitglieder insgesamt noch nicht vor, hält er fest. «So viel kann aber bereits gesagt werden: Grundsätzlich nimmt die Zahl unterschiedlicher Gemeinschaften in der Schweiz seit Jahren zu. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass kleine, familiäre und einheitliche Organisationen heute bei einem grossen Teil des Publikums beliebter sind als grosse, pluralistische und unverbindlichere.»
Nicht alle «Sekten» sind Sekten
Die 500 neu entstandenen «Sekten» in Frankreich sieht Schmid aber in der Auslegung des Begriffs begründet. «Dort werden auch reine Online-Bewegungen ohne zentrale Leitung, esoterische Einzelanbietende und online aktive freikirchliche Organisationen als Sekten bezeichnet.» Zahlenmässig hätten diese zwar auch in der Schweiz von der Corona-Krise profitiert, aber sie gälten hier nicht als Sekten.
So beobachtet Relinfo eine grosse Zahl von Gemeinschaften, die nur im Ausland über physische Gruppen verfügen, in der Schweiz aber übers Internet einzelne Mitglieder pflegen. «Hingegen sind diverse kleine Organisationen, die sich vor Corona noch physisch getroffen haben, durch Lockdown und Kontaktverbot eingegangen», nennt Georg O. Schmid die Kehrseite der Medaille. Er schätzt daher, dass die Anzahl der Gemeinschaften, die sich in der Schweiz vor Ort versammeln, eher geschrumpft sein dürfte. Teils hätten sie deshalb auch von der Corona-Krise kaum profitieren können – obwohl sie eine endzeitliche Botschaft verkünden, die zur allgemeinen Stimmungslage gut gepasst hätte.
Auftrieb für Fernheilung
Am auffälligsten in der Corona-Zeit ist gemäss Schmid die massenhafte Hinwendung zu Verschwörungsbewegungen wie QAnon, Lichtarbeit oder Geistheilern. Gerade auch die sonst eher belächelte und als wenig seriös wahrgenommene Methode des Fernheilens habe grossen Auftrieb erlebt, teils mit Tausenden neuer Kundinnen und Kunden pro Anbieter. Als problematisch bezeichnet Schmid vor allem die «grassierende Wissenschafts- und Medienskepsis» und die Demokratiefeindlichkeit dieser Strömungen.
Zudem versuchten – neben der Besonnenheit, die Schmid den meisten christlichen Kirchen und Gemeinschaften beim Umgang mit der Coronakrise attestiert – manche christlichen Gemeinschaften, die Pandemie in der Bibel wiederzufinden und als Hinweis auf die Nähe der Wiederkunft Christi zu deuten. Predigten mit dieser Stossrichtung hätten im Internet sehr grosse Resonanz gefunden, sagt er. «Problematisch ist dieses Phänomen durch die Radikalisierung des Publikums, die mit apokalyptischer Naherwartung typischerweise verbunden ist, und die darauf folgende Desillusionierung.» Denn eingetroffen sind die Ewartungen bisher nie.
Deutlich mehr Anfragen bei Beratungsstellen
Ein weiteres Problem: «Verschwörungstheoretisch radikalisierte Menschen werden für ihr soziales Umfeld eine grosse Herausforderung», sagt Georg O. Schmid. Gerade Anfragen in diesem Thema hätten bei Beratungsstellen zum Thema Kirchen, Sekten und Religionen zu einer deutlichen Steigerung gegenüber den Vorjahren geführt. Und obwohl sich grundsätzlich eher säkulare Menschen für die Erzählungen begeistern: «In der Corona-Krise wurden auch manche konservativ-religiösen Kreise von Konspirationsideen erfasst.»
Doch grundsätzlich führe jede schwierige Phase – wie auch die Corona-Krise – bei vielen Menschen zu einer Rückbesinnung auf die eigenen weltanschaulichen Wurzeln. «Wenn Lebensgewohnheiten massiv erschüttert werden, steigt die Sehnsucht nach Einordnung und Sinn», sagt der Sektenexperte. Man wende sich dann eher Vertrautem zu. So hätten viele Kirchen und Gemeinschaften ein grosses Interesse der eigenen Mitglieder an Online-Veranstaltungen festgestellt.