Recherche 30. November 2020, von Marius Schären

«Virologische Expertise darf nicht das Soziale definieren»

Medizinethik

Eine Gemeinschaft, in der es ums blosse Überleben gehe, könne keine freie, humane, sinnerfüllte Gesellschaft sein, sagt Frank Mathwig. Er hat eine Publikation zur Triage verfasst.

Die letzten Monate haben gezeigt: Bei einer Pandemie wie Covid-19 kön­nen Ressourcen in Schweizer Spitälern knapp werden. Was tun, wenn sie nicht mehr ausreichen? Wie soll entschieden werden, wer behandelt wird?

Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) hat hierzu unter dem Titel «Aus Unglück darf nicht Ungerechtigkeit werden» zehn Fragen und Antworten publiziert. Der Verfasser und Beauftragte für Theo­­logie und Ethik der EKS, Frank Mathwig, weist auf die ethischen Probleme von Triage-Entscheidungen hin und skizziert Vorschläge für einen fairen Umgang mit der intensiv­me­dizinischen Knappheitssitua­tion. Mathwig argumentiert für ­eine solidarische, gesellschaftliche Lösung. Es sei im Interesse aller, tragische Situationen für Betroffene und belastende Entscheidungen für das medizinische Personal zu vermeiden, schreibt er.

Keine medizinische Frage

Für den Theologen ist es zentral, dass «die Massstäbe, nach denen entschieden wird, in den Kompetenzbereich von Gesellschaft, Po­litik und Recht gehören», wie er auf Anfrage sagt. Das Recht auf Gesundheits­versorgung sei in Verfassung und Menschenrechten garantiert. Also: «Ein Zuwiderhandeln wie die Triage muss daher gesellschaftlich und politisch legitimiert werden.» Mathwig findet, dass inbesondere das Medizinpersonal die öffentliche Debatte einfordern sollte. Denn ihm würden ja die tragischen Entscheidungen aufgebürdet.

Weiter sollte jeder Mensch für sich selbst die Frage klären, ob er in einem Triage-Fall intensivmedizinische Behandlung wünscht oder verzichtet, schlägt der Theologe in der Publikation vor. Der Entscheid solle dokumentiert werden.

Pflicht, andere zu schützen

Dieser «Akt der Solidarität» ist für Mathwig aber an zwei Bedingungen geknüpft. Erstens müsste für verzichtende Menschen «eine angemessene palliative Begleitung garantiert» werden. Er präzisiert: «Sie müssten ohne Erstickungsnot sterben können, ohne Angst­zustände und schmerzfrei.» Zweitens stehe die Gesellschaft den Verzichtenden gegenüber in der Pflicht, sie vor Ansteckungsgefahren zu schützen. Die Solidarität des Verzichts durch die einen verlange also die Solidarität des Schutzes durch die anderen.

Neben der Garantie für gute Palliativmedizin stellt Mathwig zwei wei­tere Forderungen. Freiheitsrech­te von Menschen in Institutionen und Heimen dürften nicht eingeschränkt oder verboten werden, ebenso wenig die Besuchsmöglichkeit sterbender Angehöriger. «Jeder Mensch habe ein Anrecht auf ein menschenwürdiges Leben im Hier und Jetzt», betont der Ethiker. Und virologische Expertisen und Statistiken dürften nicht soziale Begegnungen definieren. «Eine Überlebensgemeinschaft kann keine freie, humane und sinnerfüllte Gesellschaft sein», hält er fest.

Auf die Frage, wie heute Medizinpersonal in Triagen entscheiden solle, sieht sich Frank Mathwig «etwas in die Bredouille» gebracht, weil es noch nicht spruchreife Entwicklungen gebe. Die Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften findet er praktisch kaum umsetzbar – und eine dringliche Diskussion daher unabdingbar.

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