«Die Kirche sollte eine Freundin der Menschen bleiben»

Pandemie

Keine Gottesdienste mehr, Beerdigungen nur im engsten Familienkreis: Der Zürcher Kirchenratspräsident Michel Müller spricht über die Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus.

Am 16. März mussten Sie mitteilen, dass bis mindestens am 30. April keine Gottesdienste mehr stattfinden. Wie hat sich das angefühlt?

Im Moment selber war es entlastend, den Kirchgemeinden endlich kommunizieren zu können, was gilt. Darauf hatten wir uns vorbereitet. Die Wochen bevor der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» erklärte, waren schwierig. Wir fragten uns ständig, ob es noch sinnvoll ist oder nicht, die Gottesdienste stattfinden zu lassen.

Aber Sie haben so etwas doch auch noch nie erlebt. Die Massnahmen sind absolut einschneidend für das kirchliche Leben.

Klar, ich bin zu jung, um so etwas schon einmal erlebt zu haben. 1973 gab es eine Autobahnschliessung, das ist das einzig vergleichbare. Ich glaube aber, dass wir als Kirche heute besser vorbereitet sind als vor zwanzig Jahren. Damals wäre der Schock noch viel grösser gewesen. Heute gibt es immerhin Formen von digitaler Vernetzung und virtueller Nähe. Man kann miteinander geistliche Impulse austauschen oder online Musik hören miteinander. Im Moment herrscht aber noch viel Geschäftigkeit. Erst in ein paar Wochen werden wir die Konsequenzen wirklich spüren, wenn es jeden Tag draussen so still ist wie an einem Sonntagmorgen.

Manchen Seelsorgenden waren die kirchenrätlichen Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus zu technisch. Sie vermissten eine theologische Botschaft.

Am 16. März war das oberste Ziel des Kirchenrats, die Gemeinden möglichst rasch zu informieren, um ihnen Sicherheit zu geben. Ich war Notfallseelsorger, und die Situation erinnert mich an einen Unfall. Kommt das Rettungsteam an den Unfallort, muss es zunächst den Schadensplatz sichern und erste Hilfe leisten. Das haben wir mit der Mitteilung der Massnahmen gemacht. Erst danach komme ich als Notfallseelsorger ins Spiel und kann mich den Sinnfragen annehmen. In dieser zweiten Phase sind wir jetzt. Der Kirchenrat hat am 18. März Hilfestellungen für Kirchgemeinden veröffentlicht, wie sie auch ohne reale Begegnungen die Gemeinschaft erhalten können.

Ich glaube, dass wir als Kirche heute auf so eine Situation besser vorbereitet sind als vor zwanzig Jahren. Heute gibt es immerhin Formen von digitaler Vernetzung und virtueller Nähe.

Was ist Ihnen als Theologe und Kirchenratspräsident besonders wichtig für die reformierte Kirche in den nächsten Monaten?

Grundsätzlich kann man in einer solchen Situation versuchen, ein Lerntagebuch zu führen. Das tue ich. Jeden Tag tauchen neue Fragen auf. Eine wichtige Frage ist für mich zum Beispiel, ob ein Gottesdienst immer noch ein Gottesdienst ist, wenn er nur virtuell stattfindet. Oder braucht es die physische Präsenz? Ich habe darauf noch keine Antwort, werde mich aber damit auseinandersetzen und mit Fachleuten austauschen. Ich hoffe, dass wir uns als Kirche in dieser Zeit Fragen stellen und Neues lernen.

Welche Herausforderungen sehen Sie für die kirchliche Gemeinschaft?

Ich glaube, jede und jeder muss selber herausfinden, was ihm guttut, um am kirchlichen Leben teilzunehmen. Manche Menschen finden soziale Medien nicht hilfreich, mir persönlich helfen sie eher, um informiert zu sein und mich auszutauschen. Grundsätzlich sollte die Kirche in dieser herausfordernden Zeit eine Freundin der Menschen bleiben. Es gibt das Sprichwort: «In der Not siehst du, wer deine Freunde sind.» Hier steht die Kirche vor einer Bewährungsprobe. Ich bin aber sehr zuversichtlich und bin sehr dankbar für die vielen engagierten Mitarbeitenden in den Gemeinden.

Wie bleiben Sie mit anderen Reformierten verbunden?

Ich freue mich auf das Glockengeläut am nächsten Sonntag um 9.45 Uhr. Es ist zwar schade, dass niemand in die Kirche gehen kann. Aber der Moment ist eine Möglichkeit, um Einkehr zu halten, und sich im Geist mit Gott und anderen Menschen zu verbinden.

Trifft sich der Kirchenrat weiterhin zu Sitzungen?

Wir hatte am 18. März unsere letzte Sitzung. Nun machen wir sechs Wochen Pause. Die wichtigsten Geschäfte konnten wir erledigen, wie die Wahl eines neuen Kirchenratsschreibers. Einige synodale Vorstösse mussten wir auf den Herbst verschieben.

Aufruf: Alle sollen jeden Donnerstagabend eine Kerze anzünden

Die evangelisch-reformierte Kirche Schweiz EKS und die Schweizer Bischofskonferenz SBK setzen zusammen ein «Zeichen der Hoffnung und Verbundenheit». Sie rufen alle Menschen dazu auf, jeden Donnerstagabend um 20 Uhr eine Kerze anzuzünden, sie sichtbar zu platzieren und zu beten. Beispielsweise ein Vaterunser für die am Coronavirus Erkrankten und das Gesundheitspersonal. Die Aktion soll bis Gründonnerstag dauern. Die Pandemie treffe unser Land auch emotional und spirituell, schreiben EKS und SBK.

Die EKS hat den Kirchgemeinden ausserdem auch  Hilfestellungen in Aussicht gestellt. Insbesondere im Hinblick auf die Osterfeierlichkeiten, die wegen dem Coronavirus ausfallen werden. Unter dem Titel «Lichtblick Ostern» sollen bald Angebote publiziert werden, die die traditionellen Feiern ersetzen sollen. EKS-Präsident Gottfried Locher betont im Communiqué vom 17. März: «Kirche ist mehr als ein Haus, wir gehören zusammen, jetzt erst recht.»

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