Wie haben Sie die gottesdienstfreie Zeit während der Corona-Pandemie erlebt?
Michel Müller: Ich habe die letzten Monate eigentlich positiv erlebt. Es ist zwar schade, dass ein paar Gottesdienste ausgefallen waren, die ich noch gehalten hätte. Gleichzeitig wurde mir aber bewusst, dass ich in meiner Funktion eigentlich immer Gastprediger oder Ehrengast bin und im Gegensatz zu einem Gemeindepfarrer keine eigentliche Heimat habe. Ich habe es daher genossen, am Sonntagmorgen beim Frühstück einen Gottesdienst per Live-Stream oder eine TV-Übertragung zu schauen und so Teil einer grösseren Gemeinschaft zu sein. Diese Art von Gemeinschaft und die Erfahrung des Überregionalen gaben mir eine neue Heimat, was vielen so gehen mag, die sich nicht nur am Ort zugehörig fühlen.
Dennoch ist das ein virtuelles Zusammensein. Auf was freuen Sie sich am meisten im physischen Kirchenleben?
Auf den Ordinationsgottesdienst nach den Sommerferien. Das ist sozusagen mein eigener Heimatsgottesdienst.
Waren Sie an Pfingsten im Gottesdienst?
Ich muss gestehen, dass ich mich noch nicht überwinden konnte in der neuen Situation. Obwohl ich seit 26 Jahren Pfarrer bin, kam mir die Vorstellung einer halbleeren Kirche fremd vor. Darum habe ich den Pfingstgottesdienst auf Telezüri, den «Zytlos» gestaltet hat, zu Hause mitverfolgt, was sehr schön war. Die vorzeitige Öffnung kam mir persönlich ein My zu früh.
Im Vorfeld gab es ja auch kritische Stimmen. 30 Pfarrpersonen äusserten in einem offenen Brief Bedenken, dass gerade vulnerable Personen aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgeschlossen werden, was theologisch heikel sei. Wie stehen Sie dazu?
Ich habe Verständnis für diese wichtigen Bedenken und glaube, dass sie auch gehört wurden. Dennoch bin ich der Meinung, dass man deswegen nicht auf Gottesdienste verzichten muss. Es gibt immer Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht am Gottesdienst teilnehmen können. Nur weil jemand in einer bestimmten Lebenssituation verletzlich ist, soll nicht die ganze Gemeinschaft verzichten müssen. Es gibt ja technische Möglichkeiten, alle teilhaben zu lassen, früher war es die Telepredigt, heute sind es halt modernere Formen. Jeder Gottesdienst hat die Tradition, dass auch an jene Menschen in der Fürbitte gedacht wird, denen es gerade schlecht geht. Ein Gottesdienst steht immer stellvertretend für die ganze Gemeinde. Bezieht also auch jene mit ein, die nicht teilnehmen können.
Andere Skeptiker warnen vor einer zweiten Welle und sehen Gottesdienste als Einfallstor für den Virus.
Ich denke wir sind richtig gefahren mit diesem Zwischenweg, sprich Öffnung unter Einhalten von Hygiene und Distanz. Mit dem Pandemieplan ist die Kirche nun sehr gut vorbereitet auf Gottesdienste und kirchliche Veranstaltungen. Ich bin sicher, dass die Gemeinden sehr verantwortungsvoll sein und kein Risiko eingehen werden. Wer sich nicht an die Regel hält, würde sich hochgradig unsolidarisch verhalten.