Der Leitzsatz während der Corona-Krise «Bleibt zuhause!» stellte eine Menschengruppe vor ein Problem: Wie soll jemand ohne Zuhause dort bleiben? Für jene, «die den öffentlichen Raum als Wohnzimmer brauchen», habe sich der Aufruf wie ein Hohn angefühlt, teilt die kirchliche Gassenarbeit Bern mit.
Sie hätten harte Monate hinter sich und wollten ein Fazit ziehen, schreiben die drei Teammitglieder. Sie leisten aufsuchende und stationäre Sozialarbeit beim Bahnhof Bern. Getragen wird die Gassenarbeit von zahlreichen Kirchgemeinden aus der Region. «Mit dem Lockdown mussten wir unsere Tätigkeit komplett umstellen», sagt die Gassenarbeiterin Nora Hunziker.
Lange Warteschlangen vor dem Büro
Im Zentrum steht normalerweise die auf persönlichen Beziehungen aufbauende Beratung. Zweimal wöchentlich sind dafür die Büroräume der Gassenarbeit geöffnet. Computer, Internet und Telefon können frei genutzt werden, es gibt Snacks, Getränke und eine Kleiderbörse. Zudem sucht das Team Menschen im öffentlichen Raum direkt auf.
Während das letzte Angebot sogar ausgebaut wurde, fielen jene im Büro weg. «Wir mussten schliessen, haben dafür aber Säcke mit Lebensmitteln und Gutscheine abgegeben», sagt Hunziker. Es kam vor den Räumlichkeiten zu langen Warteschlangen. Ein solches Angebot sei für die Gassenarbeit neu gewesen. Doch andere Institutionen hätten Essensabgaben einschränken müssen, weil deren Freiwillige häufig zu Risikogruppen gehörten.
Kritik an unklaren Abläufen
«In dieser Notlage funktionierte noch weniger als sonst», bilanziert Nora Hunziker. Städtische Sozialarbeitende seien teils schwer erreichbar und Abläufe unklar gewesen. Die Stadt habe zu wenig gemacht und zu träge reagiert. Zwar habe sie Notschlafzimmer bereitgestellt, doch obwohl die Kosten von 100 Franken pro Nacht vom Sozialdienst übernommen wurden, sei das Angebot für viele kaum zugänglich gewesen – unter anderem, weil sie nicht zum Sozialdienst konnten oder wollten. «Es braucht mehr niederschwellige Hilfe, die den Bedürfnissen der Menschen angepasst ist», nennt Hunziker eine zentrale Forderung der Gassenarbeit.
Bei der Stadt Bern sieht man selbst auch Verbesserungspotenzial – aber in erster Linie «im Bereich der Kommunikation gegenüber den Betroffenen und den verschiedenen Institutionen». Das sagt Gaby Reber, stellvertretende Leiterin des städtischen Sozialamtes.
Überaus herausfordernd
Der Lockdown sei «eine ausserordentlich herausfordernde Zeit» gewesen, bilanziert auch Reber. Sehr schnell hätten Massnahmen ergriffen werden müssen, zudem sei es zu einem starken Anstieg von Neuanmeldungen gekommen. Dass Sozialhilfesuchende ein Bankkonto hätten eröffnen müssen, wie die Gassenarbeit kritisiert, stimme hingegen nicht.
«Zum eigenen Schutz wurden die unterstützten Personen gebeten, das zu tun – um den Gang zum Sozialdienst für den Bezug von Bargeld zu vermeiden», berichtigt Gaby Reber. Es sei aber klar gewesen, dass das nicht für alle möglich ist. Deshalb habe es nach wie vor Barauszahlungen gegeben. Und bei den Notschlafstellen habe der Zugang zeitweise eingeschränkt werden müssen, weil Drogenabhängige von anderen Kantonen nach Bern gekommen seien.
Polizei hat kaum gebüsst
Nebst der Stadt kritisiert die Gassenarbeit auch die Polizei. «Wir waren viel unterwegs, um die Leute aufzusuchen, dabei ist uns die grosse Polizeipräsenz bei nicht ins System passenden Menschen aufgefallen», sagt Nora Hunziker.
Hingegen seien Gruppen Arbeitender mit wenig Abstand kaum belangt worden. Polizeisprecher Patrick Jean widerspricht. Die Polizei habe kaum gebüsst «und den Dialog mit allen Gruppen gesucht»